Wie leicht es tatsächlich ist, den Rio Grande zu überqueren, haben in den vergangenen Monaten Zehntausende von Kindern und Jugendlichen bewiesen. Das Ende ihrer Reise sei gar kein Problem mehr gewesen, sagt Nivida, die mit ihrem 17 Jahre alten Sohn Jorge aus Honduras geflohen ist. Sie wolle, dass ihr Sohn keine Angst mehr haben müsse, von den kriminellen Banden in ihrer Heimat bedroht zu werden, sagt die Frau. Wenn sie spricht, blitzt ihr linker Schneidezahn auf. Er ist aus Gold. Sie wolle, dass ihr Jorge studieren könne – Geschichte.

 

Die Mittvierzigerin ist erschöpft, sie will eigentlich nur ihre Ruhe haben, erzählt dann aber doch, wie schrecklich die letzten zwei Monate gewesen seien. 8000 Dollar habe sie einem Schmuggler bezahlen müssen, damit der sie und ihren Sohn in die USA bringen sollte. Doch der Mann habe sie mitten in Mexiko-Stadt im Stich gelassen und ausgeraubt, erzählt die Frau. Ohne Geld habe sie sich dann mit ihrem Sohn auf den Weg nach Norden Richtung USA gemacht. Als Mutter und Sohn am Rio Grande ankamen, durften sie auf ein Boot, auf dem es noch Platz gab. Nach kurzem Fußmarsch durchs Gestrüpp wurden Nivida und Jorge auf der anderen Seite des Flusses von der US-Grenztruppe gestellt.

Zweieinhalb Tage verbrachten sie in einem Auffanglager der US-Behörden und mussten belegen, dass sie Familie in den USA haben. Nivida sagt mit matter Stimme: „Verwandte aus Los Angeles haben uns Geld geschickt.“

Nun sitzen Mutter und Sohn im Grenzstädtchen McAllen in einem Saal der katholischen Kirche und werden von Freiwilligen betreut, die jeden Neuankömmling mit Applaus und einem herzlichen „Bien venidos“ begrüßen. Mehr als 4500 Menschen seien seit Mitte Juni durch diese Halle gegangen, sagt Brenda Riojas, die Sprecherin der freiwilligen Helfer. „Die meisten Menschen hier sind völlig verzweifelt. Sie haben alles verloren, nur um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Hier bekommen sie wenigstens ein Lächeln.“

Nivida und Jorge erleben die erste Atempause seit zwei Monaten. Nivida hat sich aus einem Stapel gespendeter Kleidung eine weiße Jacke genommen. Sie hilft gegen die Klimaanlagen-Kühle in der Halle. Jorge hat eine blaue Schirmmütze bekommen. Die Heilsarmee hat gekocht, und die beiden Flüchtlinge konnten duschen. Sie warten auf den Bus, der sie nach Los Angeles bringt. Dort wird ein Richter entscheiden, ob Nivida und Jorge abgeschoben werden oder bleiben dürfen. Das kann Monate dauern, vielleicht sogar Jahre. Die Einwanderungsgerichte in den USA sind überlastet.

Scott Nicole findet, dass der Grenzzaun Geldverschwendung ist. Foto: Fras

Weil der Treck der Verzweifelten aus Honduras, Guatemala und San Salvador sich von einem Band aus Eisenstangen nicht wirklich aufhalten lässt, ist der Gouverneur von Texas auf die Idee gekommen, die bereits hinreichend militarisierte Grenzregion noch ein bisschen mehr zu militarisieren. Der Republikaner Rick Perry stellt dafür jetzt Monat für Monat 18 Millionen US-Dollar bereit und hat die Nationalgarde in Marsch gesetzt. Man wisse ja nie, sagt Perry. Am Ende könnten sich noch islamistische Extremisten den jugendlichen Immigranten anschließen und Anschläge in Amerika verüben.

Dieses Argument zieht in den USA immer, und für den Konservativen Perry könnte die Sache auch von Vorteil sein. Es heißt, der Republikaner denke über eine Kandidatur für das Präsidentenamt im Jahr 2016 nach. Da kann es gar nicht schaden, sich der Wählerschaft als aufmerksamer Grenzsoldat zu präsentieren.

Seit einigen Tagen stehen nun einige Hundert Nationalgardisten im dichten Mesquite-Gestrüpp an der Grenze und schauen auf den Rio Grande. Sie tragen Pistolen und Schutzwesten. Mit Journalisten dürfen sie nicht sprechen. Sie wirken gelangweilt. Dieses Schicksal teilen sie mit den Beamten der texanischen Highway Patrol. Dutzende der Autobahnpolizisten sind in schwarzen Fahrzeugen entlang des Old Military Highway postiert, der von McAllen im Westen nach Brownsville im Osten führt. Immer an der Grenze entlang.

Wenn Scott Nicol in seinem klapprigen Pick-up an der Staatsmacht vorbeifährt, fragt er sich manchmal halblaut: „Was soll das eigentlich? Die Einwanderer kommen aus dem Süden und wollen nach Norden. Keiner von ihnen benutzt die Ost-West-Route. Wenn die Menschenschmuggler sich nur an die Geschwindigkeitsbeschränkung halten, dann haben sie nichts zu befürchten.“ Er wisse manchmal nicht, ob er weinen oder lachen solle, sagt Nicol.

Erschöpft, aber zufrieden: Flüchtlinge in den USA Foto: AP

So geht es auch Michael Seifert aus Brownsville. Der ehemalige Priester, der seinen katholischen Orden nach 24 Jahren verlassen musste, als er sich in eine Frau verliebte, sitzt in seinem Auto und erzählt eine Geschichte, die hanebüchen klingt. Aber sie ist wahr. „Ein Freund von mir hat ein Baumwollfeld in der Nähe des Flusses. Als vor dem Feld der Grenzzaun gebaut wurde, sollte extra für ihn ein Tor geschaffen werden. Doch mein Freund wollte das nicht, weil er Angst hatte, dass ihn die Drogenbanden aus Mexiko nachts überfallen und ihm die Kombination für das Schloss abpressen. Was also ist geschehen? Der Zaun wurde einfach unterbrochen, und mein Freund kann sein Feld wieder über die alte Zufahrt erreichen. Mal ehrlich, sechs Millionen Dollar, um eine Meile der Grenze abzudichten – und dann führt eine Straße hindurch?“

Auch der städtische Golfplatz von Brownsville ist durch eine Lücke im Zaun zu erreichen. Im Tal des Rio Grande ist das Eisenband insgesamt 54 Meilen lang und an 18 Stellen unterbrochen. Mal brauchten Landwirte Zugang, mal scheuten die Behörden jahrelange Enteignungsprozesse. Man stelle sich vor, die Berliner Mauer hätte so viele Löcher gehabt. Wahrscheinlich gäbe es die DDR heute noch.

Die US-Behörden aber sagen, sie hätten sich schon etwas dabei gedacht. Die Mauer solle den illegalen Grenzübertritt in der Nähe von Städten verhindern und die Flüchtlinge in ländliche Gegenden treiben, in denen sie leichter aufgespürt werden könnten, sagen Beamte wie Robert Duff, der im Tal des Rio Grande für den Einsatz der Border Patrol zuständig ist.

Der 59 Jahre alte Ex-Pater Seifert, der ein wenig aussieht wie der Schauspieler Sean Connery vor zwanzig Jahren, lacht auf, wenn er solche Argumente hört, nur um nach einer Sekunde ganz leise zu sagen: „Die USA sind ein Land, das aus Einwanderern besteht. Und die, die vor Jahrzehnten eingewandert sind, haben sich zu Rassisten verwandelt und hassen alle Einwanderer, die jetzt kommen. “

Der Präsident in Washington habe ihn enttäuscht. Barack Obama hätte den elf bis zwölf Millionen Flüchtlingen in den USA schon längst befristete Aufenthaltsgenehmigungen geben können, sagt der ehemalige Priester. Die seien doch ohnehin schon im Land und würden auch nicht mehr weggehen. Auch, weil sie wüssten, wie wichtig sie für die US-Volkswirtschaft seien. Wer von den Amerikanern wolle denn schon für wenig Geld auf den Bau oder zur Müllabfuhr. Nun gibt Michael Seifert Gas und fährt zur nächsten Lücke im Zaun, über die er sich genauso lustig macht wie über alle anderen zuvor.

Auf jede Leiche kommen zehn Tote, die unentdeckt bleiben

Wie leicht es tatsächlich ist, den Rio Grande zu überqueren, haben in den vergangenen Monaten Zehntausende von Kindern und Jugendlichen bewiesen. Das Ende ihrer Reise sei gar kein Problem mehr gewesen, sagt Nivida, die mit ihrem 17 Jahre alten Sohn Jorge aus Honduras geflohen ist. Sie wolle, dass ihr Sohn keine Angst mehr haben müsse, von den kriminellen Banden in ihrer Heimat bedroht zu werden, sagt die Frau. Wenn sie spricht, blitzt ihr linker Schneidezahn auf. Er ist aus Gold. Sie wolle, dass ihr Jorge studieren könne – Geschichte.

Die Mittvierzigerin ist erschöpft, sie will eigentlich nur ihre Ruhe haben, erzählt dann aber doch, wie schrecklich die letzten zwei Monate gewesen seien. 8000 Dollar habe sie einem Schmuggler bezahlen müssen, damit der sie und ihren Sohn in die USA bringen sollte. Doch der Mann habe sie mitten in Mexiko-Stadt im Stich gelassen und ausgeraubt, erzählt die Frau. Ohne Geld habe sie sich dann mit ihrem Sohn auf den Weg nach Norden Richtung USA gemacht. Als Mutter und Sohn am Rio Grande ankamen, durften sie auf ein Boot, auf dem es noch Platz gab. Nach kurzem Fußmarsch durchs Gestrüpp wurden Nivida und Jorge auf der anderen Seite des Flusses von der US-Grenztruppe gestellt.

Zweieinhalb Tage verbrachten sie in einem Auffanglager der US-Behörden und mussten belegen, dass sie Familie in den USA haben. Nivida sagt mit matter Stimme: „Verwandte aus Los Angeles haben uns Geld geschickt.“

Nun sitzen Mutter und Sohn im Grenzstädtchen McAllen in einem Saal der katholischen Kirche und werden von Freiwilligen betreut, die jeden Neuankömmling mit Applaus und einem herzlichen „Bien venidos“ begrüßen. Mehr als 4500 Menschen seien seit Mitte Juni durch diese Halle gegangen, sagt Brenda Riojas, die Sprecherin der freiwilligen Helfer. „Die meisten Menschen hier sind völlig verzweifelt. Sie haben alles verloren, nur um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Hier bekommen sie wenigstens ein Lächeln.“

Nivida und Jorge erleben die erste Atempause seit zwei Monaten. Nivida hat sich aus einem Stapel gespendeter Kleidung eine weiße Jacke genommen. Sie hilft gegen die Klimaanlagen-Kühle in der Halle. Jorge hat eine blaue Schirmmütze bekommen. Die Heilsarmee hat gekocht, und die beiden Flüchtlinge konnten duschen. Sie warten auf den Bus, der sie nach Los Angeles bringt. Dort wird ein Richter entscheiden, ob Nivida und Jorge abgeschoben werden oder bleiben dürfen. Das kann Monate dauern, vielleicht sogar Jahre. Die Einwanderungsgerichte in den USA sind überlastet.

Nivida und Jorge haben die Reise nach Norden überlebt. Hunderte von Einwanderern aber sterben jedes Jahr. Das Zonenrandgebiet der USA ist groß und gefährlich. Von der Grenze in McAllen erstreckt es sich 70 Meilen nach Norden. Dort, an der einzigen Straßenverbindung zwischen der Grenze und der Großstadt San Antonio, betreibt die Border Patrol eine Kontrollstation – eine zweite Grenze im Hinterland. Wer in den Checkpoint hineinfährt, fühlt sich wie in einem Hochsicherheitsgefängnis. Hunde schnuppern an den Autos, um blinde Passagiere zu finden. Mürrische Beamte lassen sich Ausweise zeigen. „Sind Sie US-Bürger?“ - „Nein, Deutscher.“ – „Papiere!“ – „Hier, bitte.“ – „Okay, Sie können weiterfahren.“

Wahrscheinlich Tausende von illegalen Einwanderern versuchen Monat für Monat, diese Kontrolle zu umgehen, um in die Großstädte der USA zu gelangen, wo das Untertauchen leichter fällt. Schleuser führen sie, wenn sie den Rio Grande überquert haben, durch die Halbwüste – an einen Ort nördlich der zweiten Grenze. Von dort aus bringt sie ein Auto weiter nach Norden.

Doch der Fußmarsch kann Tage dauern – es geht durch mannshohes Gestrüpp. Die Sonne brennt, der Wind kühlt kaum. Die Temperaturen erreichen im Sommer mehr als 45 Grad. Quellen sind selten. Wer querfeldein geht, muss mehr Wasser zu sich nehmen, als er tragen kann, sagen die einheimischen Rancher. Und wer erschöpft ist, kann das nicht.

Wie viele Menschen diesen Marsch schaffen, weiß Benny Martinez nicht. Er weiß ja nicht einmal, wie viele ihn nicht schaffen. Der stellvertretende Sheriff von Falfurrias ist so etwas wie der Leichensammler im Zonenrandgebiet. Er sitzt am Schreibtisch in seinem holzvertäfelten Büro und zieht sein Telefon heraus. „Schauen Sie nur, das ist Alltagsgeschäft bei uns.“ Die Fotos zeigen einen Mann, der wahrscheinlich vor Erschöpfung nicht mehr laufen konnte, von den Schleusern im Stich gelassen wurde und in der Halbwüste starb.

Benny Martinez spricht von einem sinnlosen Tod. Foto: Fras

„Ein sinnloser Tod, das ist ein sinnloser Tod“, sagt der Polizist Martinez: „An solche Bilder werde ich mich nie gewöhnen.“ Der Vize-Sheriff führt penibel Buch. Er hat jeden einzelnen Fall dokumentiert und in einem dicken Aktenordner mit weißem Einband abgelegt. So ist eine Chronologie des Todes entstanden.

Seit der 57 Jahre alte Martinez vor fünf Jahren den Job angenommen hat, weil er wieder in seiner Heimatstadt Falfurrias leben wollte, hat er 412 Tote geborgen. Der Mann, der an diesem Morgen im Gestrüpp lag, war Nummer 412. Martinez glaubt, dass der vielleicht 30 Jahre alte Mann verdurstet ist. „Manchmal sehen die Leichname noch wie Menschen aus“, sagt der Leichensammler von Falfurrias: „Oft finden wir aber nur noch von Tieren abgenagte Knochen. Bei unserem Klima hier reichen schon drei bis vier Tage, dann ist ein Körper verwest.“ Er wisse nicht, sagt der Mann mit sonorer Stimme, wie viele Tote noch im Buschland lägen: „Ich schätze, auf jede Leiche, die wir finden, kommen fünf bis zehn, die wir nicht finden.“

Benny Martinez hat an seiner Bürowand ein Schild, auf dem steht, dass Jammern mit einer Geldstrafe von fünf Dollar belegt werde. Martinez neigt auch nicht dazu, sich zu beklagen. Doch dann sagt der Sheriff, dass die Sache doch irgendwie sinnlos sei. Jeder wisse, dass man eine Grenze niemals vollständig abdichten könne. Warum eigentlich wüssten das die Politiker in Washington nicht?