In der venezolanischen Kleinstadt Colonia Tovar vermarkten die Nachfahren von Einwanderern aus Baden ihre deutsche Herkunft.

Caracas - Vier, fünf Stunden braucht man am Wochenende, um die 42 Kilometer aus Caracas hier hochzufahren: So dicht ist der Stau, so endlos viele Autos schieben sich dann die Straße hoch. Denn Colonia Tovar, das 1843 von Auswanderern aus Baden gegründet wurde und über ein Jahrhundert lang von der Welt völlig abgeschieden vor sich hinlebte, ist heute eines der Lieblingsziele der Wochenendausflügler aus der Metropole Caracas. Haidy Collin, die Tourismusreferentin der Gemeinde, spricht von einer "Gegenwelt", und wenn man gerade aus Caracas mit all seinem Luxus und all seinem Elend hier hinaufgeflüchtet ist, ist nichts plausibler als dieses große Wort für dieses kleine Nest. Wie ausgestreut liegen die rot gedeckten, adretten weißen Häuschen, von Obstgärten und Gemüsebeeten umgeben, auf einem Bergrücken inmitten von dichten, weiten Wäldern. Kaum Lärm, reine Luft, der Blick geht weit ins Land.

Aber Gegenwelt, das ist mehr als der Kontrast zwischen Stadt und Land. Colonia Tovar ist deutsch bis zum Deutschtümeln, und das ist genau diese Art der Exotik, die die Venezolaner schätzen. "Colonia Tovar ist eine starke Marke", sagt Haidy Collin. Damit sind nicht nur die Kohl- und Salatköpfe, die Möhren und Zwiebeln, die Erdbeeren und Pfirsiche gemeint, die die Bauern des Ortes nach Caracas verkaufen und deren Ruf so gut ist, dass mitunter die Landwirte anderer Regionen so tun, als stamme ihr Gemüse auch von dort.

Mit der Marke Colonia Tovar verbinden die Touristen vor allem Erlebnisgastronomie wie im Café Muuhstall, im Restaurant Rebstock, im Mutterhaus oder im Biergarten, wo blonde, blauäugige Bedienungen im Dirndl wahre Orgien an Würstchen, Kassler und Eisbein mit Sauerkraut, an Germknödel, Apfelstrudel und Schwarzwälder Kirschtorte anrichten. In den Andenkenläden sind die Kuckucksuhren der Renner. Das ist Deutschtum, das deutscher ist als in Deutschland. "Hier sind schon Deutsche durchgekommen, die haben geschworen, dass unser Stollen besser ist als der bei ihnen", sagt Claudia Breidenbach, die Chefin des Rebstock, stolz.

Wie sieht ein typisch deutsches Dorf aus? In Colonia Tovar fällt die Antwort nicht anders aus als in Deutschland. Es ist die Unser-Dorf-soll-schöner-werden-Ästhetik, die das Ortsbild prägt. Rauputz und Giebelchen, Wagenräder und Wackersteine, Blumenkübel und Jägerzäune, außerdem sehr viel aufgemaltes Fachwerk - das ist die Außenansicht eines Dorfes, in dem selbst die Zahnärztin und der Computer-Shop mit Schildern in Reichsfraktur auf sich aufmerksam machen. Die schlichte, schöne Architektur einer Gründerzeit, in der es noch keine Baumärkte gab, kann man nur noch an einzelnen, musealen Häusern bewundern.

Eine Erfolgsgeschichte mit unsicherer Zukunft


Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not, den Dritten das Brot - diese Generationenabfolge beschreibt auch die Geschichte von Colonia Tovar. Rund 400 Auswanderer traten 1843 den langen Weg aus dem von Armut und Missernten geplagten Großherzogtum Baden nach Venezuela an. In langen Strapazen schleppten sie sich hier hoch, wo ihnen der Grundbesitzer Martín Tovar das Land schenkte, das heute seinen Namen trägt. Die Kosten der Überfahrt mussten sie abarbeiten, es kam zu Zwist und Streit mit dem Organisator der Auswanderung. Auch unter sich waren die Einwohner der Kolonie selten einig, und manchmal wurden die Rivalitäten und Machtkämpfe mit der Flinte ausgetragen.

Eine Gegenwelt: bis in den Vierzigern eine Straße gebaut wurde, lebten sie isoliert. Sie wollten unter sich bleiben, teils mit offen rassistischer Begründung; Ehen mit Venezolanern waren lange verboten. Und trotzdem war Colonia Tovar auch eine Gegenwelt des Fortschritts: Die erste in Venezuela gedruckte Landkarte bildet die Kolonie ab, die erste zweisprachige Zeitung des Landes wurde hier publiziert, hier wurde der erste botanische Garten angelegt, und die Frage, wo in Venezuela das erste Bier gebraut wurde, beantwortet sich praktisch von alleine.

Heute hat Colonia Tovar das höchste Pro-Kopf-Einkommen aller Gemeinden Venezuelas. Den Dritten also das Brot - bloß was wird mit den Vierten? Mit dem wirtschaftlichen Erfolg hat sich Colonia Tovar kräftig verändert. Die Gemeinde ist, über die Auswanderersiedlung hinaus, stark gewachsen. Unter den 25.000 Einwohnern sind die Deutschstämmigen längst in der Minderzahl. Die Colonia Tovar verliert nach und nach ihren ursprünglichen Charakter, das Deutsche wird immer mehr zur Fassade. Immer weniger sprechen noch das "Alemán Coloniero", dieses wunderliche, auf dem Stand des 19. Jahrhunderts konservierte, durch zahlreiche spanische Lehnwörter ergänzte Alemannisch.

Alles für die Touristen, nichts für die Einheimischen


Ronald Gutmann war zehn Jahre im Ausland, hat unter anderem bei den Gebrüdern Haeberlin im Elsass und im Berliner Hotel Adlon Koch gelernt und die Hotelfachschule in Bad Reichenhall absolviert. "Ja, das ist eigentlich eine Nummer zu klein hier", sagt der Juniorchef des Hotels Selva Negra, das erste und älteste Haus am Platze, das sein aus Kleinkotzenburg bei Hanau stammender Vater seit den Sechzigern führt, "aber es ist eben Familie, und außerdem identifiziere ich mich hundertprozentig mit Venezuela". Auch er sieht Colonia Tovar als Gegenwelt, in einem noch mal anderen Sinne: "Wir müssen den Leuten in diesem Land beibringen, wie man schafft." Was Venezuela fehlt, sei "Aufrichtigkeit und Arbeit", sagt er so streng, wie es die Vorväter wohl ausgedrückt hätten.

"Wir machen alles so deutsch wie möglich, das ist unser Kapital", sagt Gutmann, und dennoch sieht er die Gefahr, dass sich das Deutsche verliert. Wenn die Bauvorschriften nicht mehr eingehalten werden, drohe der einzigartige architektonische Charakter der Colonia zu verschwinden. Die lokale Kultur müsse "wieder aufgenommen" werden, findet Gutmann - tatsächlich ist sie fast zum Erliegen gekommen. Das Vereinsleben, das in Deutschland das Leben im ländlichen Raum prägt, fehlt in Colonia Tovar weitgehend. Auch die katholische und die evangelische Kirche haben viel von ihrer Bedeutung eingebüßt.

"Die Angst vor dem Identitätsverlust ist völlig berechtigt", meint Leopoldo Jahn, der Autor eines prächtigen Bildbandes über Colonia Tovar. Wobei schon früher Identität stiftende Elemente der heimischen Kultur verloren gingen, aber wiedergefunden wurden, sagt Jahn - zum Beispiel das "Jokili", die vom Kaiserstuhl mitgebrachte Karnevalsfigur, deren Schellenklang einst völlig verstummte und erst seit den Siebzigern wieder in den Bergen oberhalb von Caracas zu hören ist. Denn durch den damals wieder intensivierten Kontakt mit Endingen am Kaiserstuhl erwachte der Jokili-Brauch zu neuem Leben.

"Wenn sie die Bauweise, die Kultur und vor allem die Sprache bewahren, haben sie eine Zukunft", meint Jahn optimistisch, "die Jungen sind ja interessiert." Haidy Collin, die Tourismusreferentin, ist skeptischer. "Bis auf den Sport haben wir nichts für die Jugend, keine Bibliothek, kein Kino, nichts - da ist es doch kein Wunder, dass die Jungen irgendwo herumstehen und sich betrinken", beschreibt sie die Lage, wie sie auch auf ein Dorf in Deutschland zutreffen könnte. Über all dem wirtschaftlichen Erfolg sei der Colonia die Selbstbesinnung abhandengekommen: "Wir kümmern uns mehr um die Freizeit der Fremden als um unsere eigene", sagt sie, "und wenn wir nicht aufpassen, werden wir über kurz oder lang zu einem deutschen Disneyland."