Der stellvertretende Verdi-Vorsitzende Frank Werneke fordert von der künftigen Regierungskoalition, das Tarifvertragssystem zu stabilisieren. Außerdem müsse es Schutzrechte für die neuen Arbeitsformen geben, die über Online-Plattformen gesteuert werden.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der Begriff Digitalisierung hat Konjunktur. Für immer mehr Soloselbstständige, die allein von Online-Aufträgen leben, ist die Arbeitswelt der Zukunft längst Realität. Verdi-Vize Werneke schildert, wie die Gewerkschaften versuchen, in dem Bereich Fuß zu fassen.

 
Herr Werneke, die Kanzlerin hat jüngst versprochen, mehr für die Tarifbindung in Deutschland zu tun. Nehmen Sie ihr das ab?
Angela Merkel hat schon mehrfach artikuliert, dass sie für eine Stabilisierung des Tarifvertragssystems sei – auch beim Meseberg-Dialog, wo sich die Spitzen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden mit dem Kabinett treffen. Allerdings wird es wohl wieder einmal bei allgemeinen Postulaten bleiben.
Warum so skeptisch?
Die Wahrheit ist konkret: Wir Gewerkschaften haben zwei Vorschläge im Wahlkampf dazu gemacht. Zunächst eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeit: Im Moment können Tarifverträge auf dem Weg dahin durch ein Veto der Bundesvereinigung der Arbeitgeber gestoppt werden. Dies zu verhindern, ist wichtig für uns. Der zweite Punkt betrifft die weitere Zerlegung von Unternehmen: Da darf ein Tarifvertrag nicht durch eine Ausgründung verloren gehen und durch Einzelarbeitsverträge ersetzt werden. Ein Tarifvertrag darf nur durch einen Tarifvertrag ersetzt werden. Mir fehlt es jedoch an Optimismus, dass diese Punkte in den Koalitionsvertrag Eingang finden.
An wem könnte es scheitern?
Ich gehe leider davon aus, dass die FDP alles, was zu einer Stabilisierung des Tarifvertragssystems führen würde, verhindern will. Das ist unsere langjährige Erfahrung. Mit den Grünen sind wir zu unseren Forderungen im Gespräch. Wir reden auch mit vielen Entscheidungsträgern aus der Union. Da wird das Tarifvertragssystem zwar als ein Vorteil gegenüber anderen Ländern gesehen. Aber immer wenn es ins Konkrete geht, wird es ausgesprochen zäh.
Ist das Heer von Selbstständigen und Freiberuflern, das die Digitalisierung künftig mit sich bringt, noch zu organisieren für die Gewerkschaften?
Verdi organisiert seit langer Zeit Soloselbstständige. Und ich bin auch nicht sicher, ob die durch Digitalisierung entstehenden neuen Arbeitsformen überwiegend durch die Selbstständigkeit geprägt sein werden. Es gibt Veränderungsprozesse: Die Fixierung auf einen Arbeitsort mit definierten Arbeitszeiten verliert an Bedeutung. Die Telekom etwa stattet bei Neubauten nicht alle Beschäftigten mit Arbeitsplätzen aus, weil sie von vorneherein mit einer gewissen Home-office-Quote rechnet. Wir müssen die Kommunikation mit den Beschäftigten sicherstellen.
Bröckelt wegen dieser Vereinzelung nicht die Solidarität – wie wollen Sie diese Menschen in die Gewerkschaft locken?
Die Vereinzelung macht es schwieriger, Gemeinsamkeiten zu organisieren, aber nicht unmöglich. Nehmen wir die Lieferdienste, die über bestimmte Plattformen angeboten werden, damit scheinbar Selbstständige mit ihrem eigenen Fahrrad Nahrungsmittel durch die Gegend fahren. Diese Menschen zu vernetzen, gelingt schon.
Werden konventionelle in freie Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt?
Weil viel Neues entsteht, lässt sich eine Verdrängung von Beschäftigung empirisch noch nicht feststellen. Dennoch müssen wir bei den Netzwerk-Anbietern aufpassen – da wird der Versuch gemacht, den gesetzlichen Mindestlohn zu umgehen, weil diese Untergrenze nicht für Selbstständige gilt. Wenn Plattformen Putzdienste anbieten und die Durchführung dieser Arbeiten genau vorschreiben, ist das aus meiner Sicht die Umgehung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie des Mindestlohns. Trotzdem wachsen diese Geschäftsmodelle. Daher muss die Bundesregierung die Grenze zwischen echter und vorgeschobener Selbstständigkeit schärfer ziehen, um Missbrauch zu begrenzen.