Dürfen Gemeinden bei der Vergabe von Energiekonzessionen Aspekte wie Bürgernähe oder Ökologie wirklich nicht berücksichtigen? Das will Titisee-Neustadt nun in Karlsruhe geklärt wissen. Das Vorgehen wird bundesweit mit Interesse verfolgt.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart / Titisee-Neustadt - Wenn Kollegen dem Bürgermeister von Titisee-Neustadt, Armin Hinterseh (CDU), alles Gute fürs neue Jahr wünschen, gilt das zum Teil auch für sie selbst. In vielen Rathäusern werden dem Verwaltungschef der 12 000-Einwohner-Stadt im Hochschwarzwald mit Blick auf 2015 die Daumen gedrückt. In diesem Jahr nämlich soll das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über eine bundesweit beachtete Beschwerde entscheiden, mit der die Schwarzwälder eine grundsätzliche Rechtsfrage klären lassen wollen.

 

Es geht darum, inwieweit Kommunen überhaupt noch eine Chance haben, die Energieversorgung in eigener Regie zu übernehmen, ob sie dabei Aspekte wie Bürgernähe oder regionale Wertschöpfung berücksichtigen dürfen oder ob alleine der Wettbewerb zählt, in dem die großen Energieversorger meist die besseren Karten haben. Letztlich soll Karlsruhe nach den Worten von Bürgermeister Hinterseh entscheiden, „ob kartellrechtliche Vorgaben die grundgesetzlich verbrieften Rechte der Gemeinden – am Parlament vorbei – praktisch außer Kraft setzen können“.

EnBW-Tochter verliert die Konzession

Mit dem Kartellamt hat Titisee-Neustadt Ärger, seit es die Energieversorgung selbst in die Hand nehmen will. Bis 2011 war dafür das Unternehmen Energiedienst zuständig, eine Tochter der EnBW. Dann gründeten die Schwarzwälder eine eigene Firma, die „evtn“. 60 Prozent der Anteile gehören der Stadt, 30 Prozent den Elektrizitätswerken im nahen Schönau (EWS) und zehn Prozent einer lokalen Bürgergenossenschaft. Für Hinterseh ist das ein „bürgerschaftliches Bilderbuch-Projekt“ und Paradebeispiel dafür, wie die Energiewende gemeinsam mit den Bürgern angepackt werden kann.

Als 2012 die Konzession von Energiedienst auslief, übernahm evtn Netzbetrieb und Versorgung. Das Stromnetz hatte sie dem Altkonzessionär zuvor abgekauft, der Betrieb laufe seither „absolut versorgungssicher“. Doch der ausgebootete Mitbewerber beschwerte sich beim Bundeskartellamt, das umgehend ein Verfahren einleitete. Titisee-Neustadt scheint dabei schlechte Karten zu haben. Zu stark habe die Gemeinde kommunalfreundliche Kriterien gewichtet, monieren die Wettbewerbswächter – etwa den kommunalen Einfluss auf die Netzgesellschaft und die Möglichkeit der Bürgerbeteiligung. Eine Verfügung wegen Missbrauchs der marktbeherrschenden Stellung liegt bereits im Entwurf vor, würde sie rechtskräftig, müsste die Vergabe wiederholt werden – vermutlich mit einem anderem Ausgang. Der Gemeinde und den Gemeinderäten drohen laut Bürgermeister zudem „Bußgelder in Millionenhöhe“.

Bürgernähe oder Ökologie keine Kriterien

Vor Gericht hätte Titisee-Neustadt wohl wenig Chancen, sich dagegen zu wehren. Denn seit Ende 2013 ist das „kartellrechtliche Regime“, festgelegt in Leitlinien von Kartellamt und Netzagentur, vom Bundesgerichtshof abgesegnet. Damit wurde die seit 2010 durch Kartellbehörden und Justiz geänderte Interpretation der (unveränderten) Gesetzeslage zementiert. Gemeinden dürfen die Energieversorgung nur noch dann übernehmen, wenn sie im Wettbewerb mit anderen Anbietern das beste Angebot abgeben; Kriterien wie Bürgernähe, ökologische Aspekte, Schaffung von Arbeitsplätzen oder Folgen für den kommunalen Haushalt dürfen keine Rolle mehr spielen. Das mache es den Kommunen „nahezu unmöglich“, zum Zuge zu kommen, moniert Hinterseh; die bisherigen Versorger seien klar bevorzugt. Gleichwohl müssten die Gemeinden einspringen, wenn sich einmal kein Betreiber finde. Die Beschränkungen gälten also nur, „solange der Netzbetrieb lukrativ ist“. In Deutschland sei damit „keine Rekommunalisierung mehr möglich“, protestierte auch der Ökostrom-Pionier Michael Sladek von der Schönauer EWS. Der Wettbewerb ums Stromnetz sei „praktisch aufgehoben“.

Mit der im Dezember eingereichten Kommunalverfassungsbeschwerde will Titisee-Neustadt das nun ändern. Die im Grundgesetz verbürgte kommunale Selbstverwaltung werde durch die Rechtspraxis ausgehebelt, beklagen die Anwälte der Stadt von der Freiburger Kanzlei Wurster Weiss Kupfer. „Das wettbewerbliche Prinzip darf nicht an die Stelle des demokratischen Prinzips gesetzt werden“, heißt es in ihrem 140-seitigen Schriftsatz. Daher sollten die Vorgaben des kartellrechtlichen Regimes „für nichtig erklärt“ werden. Aufmerksam verfolgt wird das Verfahren auch in der Landespolitik und beim Städtetag Baden-Württemberg; Ende Januar soll es dazu ein Gespräch geben.

Ist Gewohnheitsrecht angreifbar?

Vor einer Entscheidung in der Sache müssen die Hochschwarzwälder indes erst eine erhebliche formale Hürde nehmen: Eine Beschwerde ist eigentlich nur gegen ein Gesetz möglich, über Gewohnheitsrecht hat das Bundesverfassungsgericht noch nie entschieden. Doch die Stadt und ihre Juristen berufen sich auf eine Äußerung des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle: „Auch Gewohnheitsrecht und Richterrecht“, habe der einmal gesagt, müsse man „als zulässige Beschwerdegegenstände ansehen“.