In der Türkei soll nach Willen des Präsidenten und der Regierungspartei AKP ein Präsidialsystem eingeführt werden. Das sei vergleichbar mit den Systemen in den USA und in Frankreich, sagen die Befürworter. Kritiker warnen vor einer Diktatur. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Ankara - Am 16. April stimmen die Türken über eine Verfassungsänderung ab, mit der ein Präsidialsystem eingeführt werden soll. Die wichtigsten Fakten dazu im Überblick.

 

Worüber entscheiden die Türken in der Volksabstimmung?

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung wollen die Verfassung in 18 Punkten ändern, um die parlamentarische Demokratie durch ein Präsidialsystem zu ersetzen. Es soll dem Staatschef sehr weitgehende Kompetenzen geben und zugleich die Befugnisse des Parlaments beschneiden. Nachdem die Nationalversammlung die Änderungen bereits im Januar mit Dreifünftelmehrheit billigte, haben nun die Wähler in einer Volksabstimmung das letzte Wort.

Welche Rechte bekäme der Staatspräsident?

Er wäre Staatsoberhaupt und Regierungschef in einer Person. Der künftige Präsident kann mit Dekreten regieren, die Gesetzeskraft haben – ohne Zustimmung des Parlaments. Er beruft und entlässt seine Vizepräsidenten und die Minister, ernennt die Rektoren der Universitäten, hat wesentlichen Einfluss auf die Berufung der obersten Richter und Staatsanwälte und kann den Notstand ausrufen. Anders als bisher steht der Präsident nicht mehr über den Parteien, sondern kann zugleich Parteivorsitzender sein. Parlament und Präsident werden jeweils am gleichen Tag gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident im Parlament eine Mehrheit hat.

Aktuelle Entwicklungen in der diplomatischen Krise mit der Türkei lesen Sie in unserem News-Blog.

Wäre er damit mächtiger als etwa der französische Präsident oder der Präsident der USA?

Eindeutig ja. Zwar ist auch der US-Präsident Staats- und Regierungschef in Personalunion, der Kongress bildet aber als oberstes Gesetzgebungsorgan ein starkes Gegengewicht. Der französische Präsident hat gegenüber der Regierung eine bedeutende Machtfülle, fungiert jedoch nicht gleichzeitig als Premierminister. In beiden Ländern gibt es ein ausgeprägtes System der Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz. Das schützt vor Machtmissbrauch. Was Erdogan anstrebt, erinnert eher an die nahezu unumschränkte Machtfülle mittelasiatischer oder lateinamerikanischer Staatschefs.

Wie sähe die künftige Rolle des Parlaments aus?

Die Zahl der Abgeordneten wird zwar von 550 auf 600 erhöht, doch das Parlament verliert viele Befugnisse. Es kann Gesetze beschließen, aber dafür ist eine absolute Mehrheit nötig, sofern der Präsident sein Veto einlegt. Das Parlament wirkt bei der Berufung der Minister nicht mit und kann ihnen auch nicht das Misstrauen aussprechen. Der Präsident kann das Parlament jederzeit nach Gutdünken auflösen und Neuwahlen herbeiführen.

Erdogan verteidigt sein System unter anderem damit, es werde dem Land einen Wirtschaftsaufschwung bringen – ist das realistisch?

Auch in autoritär geführten Ländern kann die Wirtschaft florieren, siehe China. Die türkische Wirtschaft kämpft allerdings mit Strukturproblemen. Ob die immer wieder aufgeschobenen Reformen unter einem nahezu allmächtigen Präsidenten endlich in Gang kämen, ist keineswegs sicher. Überdies ist die Türkei wirtschaftlich eng mit der EU verflochten. Dorthin gehen die meisten Exporte, von dort kommen die meisten Investitionen. Viele Wirtschaftsführer sehen deshalb Erdogans antieuropäische Tiraden mit Sorge.

Wer ist für das Präsidialsystem, wer dagegen?

Im Parlament bekam die Regierungspartei AKP bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung Unterstützung aus den Reihen der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP. Für ein Nein plädieren die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP und die prokurdische Partei HDP. Sie fürchtet eine „Diktatur“. Auch zahlreiche linke Splitterparteien, Gewerkschaften und Verbände sind gegen die Verfassungsänderung. Die Gegner finden jedoch wenig Aufmerksamkeit. Die Führung der Kurdenpartei HDP sitzt fast vollzählig hinter Gittern, und die meisten Medien liegen inzwischen auf Regierungslinie. Zwar gibt es auch innerhalb der regierenden AKP und in den Reihen der ultrarechten MHP kritische Stimmen gegen das Präsidialsystem, die türkische Öffentlichkeit erfährt aber davon in den Medien und im Wahlkampf fast nichts.

Warum hat sich der Wahlkampf nach Europa verlagert?

Bei dem Referendum sind auch 2,8 Millionen Auslandstürken wahlberechtigt. In Deutschland lebt rund die Hälfte von ihnen. Deutschland ist damit nach Istanbul, Ankara und Izmir der viertgrößte türkische Wahlbezirk. Die in Deutschland lebenden Türken können vom 27. März bis zum 9. April in den 13 Generalkonsulaten ihres Landes wählen. Die Stimmen der Auslandstürken sind für Erdogan deshalb besonders wichtig, weil er unter ihnen mehr Anhänger hat als im eigenen Land. Bei der Parlamentswahl vom November 2015 kam Erdogans AKP in den Niederlanden und Belgien auf 69 Prozent, in Österreich auf 68, in Deutschland auf 59 und in Frankreich auf 58 Prozent – gegenüber 49,5 Prozent in der Türkei.

Was sagen die Meinungsumfragen?

Es gibt alle paar Tage neue Umfragen, aber einen klaren Trend zeigen sie nicht. Mal liegen die Befürworter vorn, mal die Neinsager. Die Zahl der Unentschiedenen ist immer noch sehr hoch – durchschnittlich sind es zwölf Prozent. Zuverlässige Prognosen sind auf Grundlage dieser Erhebungen nicht möglich. Seit seinem ersten Wahlsieg 2002 hat Erdogan ein Dutzend Wahlkämpfe geführt und alle gewonnen. Es wäre eine große Überraschung, wenn er diese Abstimmung, bei der es für ihn um alles geht, verlieren würde.