Einige Untersuchungen und Arztgespräche später fragt sich Daniel Kartmann, ob er je wieder nach Noten wird spielen können. Der 33-jährige Familienvater ist freischaffender Musiker, spielt Schlagzeug in verschiedenen Bands, organisiert Musikreihen in einer Jazzkneipe und ist darauf angewiesen, dass er vom Blatt spielen kann. "Ich mache viel Neue Musik, die aber nur funktioniert, wenn man fähig ist, Noten zu lesen." Für Kartmann ist seine Augenverletzung zur Existenzfrage geworden - und seine Ängste wachsen, je weiter die Ereignisse im Schlossgarten wegrücken.

"Ich bereue nichts"


An dem Tag X, an dem alles vorbereitet wird für die große Baumfällaktion für Stuttgart 21, nachdem die Polizei die Sitzblockaden geräumt hat, schiebt eine Freundin Daniel Kartmann in ein Taxi. Der Fahrer setzt ihn in der Charlottenklinik ab, wo schnell klar ist, dass er länger bleiben muss. Der Musiker aber will heim zu seiner Freundin und zu seinen drei noch kleinen Söhnen. Er will zurück in seinen Alltag und er will wieder zu den Demonstranten in den Park.

"Ich bereue nichts", sagt Kartmann in seinem nüchternen Klinikzimmer. Der 33-Jährige ist blass im Gesicht, die Haare sind ungekämmt, er wirkt übernächtigt und mitgenommen. Trotzdem liegt ihm daran zu erklären, warum er gegen Stuttgart 21 protestiert. Er will den anderen Menschen sagen, warum er sich schon vor Monaten den Parkschützern angeschlossen hat. "Der Park ist einer der wenigen Grünflachen in der Stadt, wo man sich mit den Kindern frei bewegen kann." Wo die Söhne Rad fahren können, ohne an der nächsten Bordsteinkante wieder absteigen zu müssen. Über eine Neubaustrecke und einen tiefergelegten Bahnhof sagt 33-Jährige nichts. "Ich war anfangs sogar in manchen Punkten für das Bahnprojekt. Aber jetzt, wo ich sehe, wie mit den Menschen umgegangen wird, die eine andere Meinung haben als die Regierenden, bin ich es nicht mehr."

Die Polizei war bei dem Musiker am Krankenbett, wollte wissen, ob er Anzeige wegen Körperverletzung erstatten will. Daniel Kartmann will, auch wenn er nicht so recht weiß, gegen wen sich die Anzeige eigentlich richten soll. Gegen den Wasserwerferfahrer? Gegen den Einsatzleiter? Oder gegen den baden-württembergischen Innenminister Heribert Rech? Der jedenfalls möchte sich gerne mit dem verletzten Musiker treffen und lässt mitteilen, dass er sogar in die Klinik kommen würde. Daniel Kartmann will ihn auch empfangen. Aber erst, wenn es ihm wieder besser geht.