Vor elf Jahren ist der 15-jährige Sohn von Reinhard und Monika Schneider bei einem Wandertag verschwunden. Teil II der Vermissten-Serie.

Bad Boll - Der kleine Altar auf der Kommode im Flur steht immer noch, auch nach fast elf Jahren. Das Bild zeigt einen lachenden Teenager mit Oberlippenflaum, Zahnspange und Brille. Daneben eine Kerze und einige kleine Geschenke, die die Schneiders ihrem Sohn gerne gemacht hätten. Aber Benjamin ist nicht da, der Junge auf dem Bild ist verschwunden, und lange Zeit fehlte jede Spur.

 

Für die Eltern und seinen Bruder Manuel war das ein grausamer Zustand der Untröstlichkeit – aber auch das ist schon lange her. „Manchmal“, sagt Reinhard Schneider, „manchmal denke ich, wie das wäre, wenn er plötzlich vor der Tür stehen würde.“ Dann schweigt der Vater, Mutter Monika schaut auf den Boden. Sie ist der Realist in der Familie. Aber auch sie weiß, dass er tatsächlich noch leben kann, so unwahrscheinlich das auch ist. Es gibt eine gesicherte DNA von ihrem Sohn. Bisher wurde sie noch bei keinem unbekannten Toten entdeckt. Das ist Fakt.

Am 25. Oktober 2001 ist der Teenager mit Mitschülern und zwei Lehrern auf einer Wanderung im Helenental unweit von Eckwälden am Fuße der Schwäbischen Alb unterwegs. Benjamin ist Epileptiker, braucht Medikamente. Er geht im anthroposophisch geführten Internat Eckwälden zur Schule und danach in die Tagesgruppe. Über Nacht ist er immer zu Hause, die Schneiders wohnen in Bad Boll, das ist nicht weit weg. An diesem Oktoberabend 2001 wird Benjamin aber nicht nach Hause kommen.

Die Gruppe biegt ab, Benjamin geht geradeaus

Ein paar Stunden vorher ist er bei der Wanderung einfach geradeaus gelaufen, als die Gruppe eine Abbiegung nahm. Beide Lehrer gingen vor der Gruppe. Sagt Reinhard Schneider. Benjamin ist zwar leicht behindert, muss aber trotzdem nicht dauernd kontrolliert werden. Er kann lesen, im Zahlenraum bis 100 rechnen. Er spricht zwar wenig, aber deutlich. Dass Benjamin plötzlich weg ist, bemerkt die Gruppe ziemlich schnell. Wie viel Zeit dabei exakt verstreicht, wird nie geklärt, aber es waren wohl nur ein paar Minuten.

Danach läuft die Maschinerie an: Notruf bei der Polizei, ein Kind wird vermisst, das ganz große Programm. Von da an durchkämmen Polizei und Freiwillige tagelang das teilweise unwegsame Gelände. Etwa 2000 Personen helfen mit, 130 Suchhunde sind im Einsatz, Hubschrauber mit Wärmebildkameras kreisen über dem Gebiet. Benjamin bleibt verschwunden. Spezialisten der Bergwacht seilen sich in Spalten ab, Benjamins jüngerer Bruder Manuel ruft mit dem Megafon in den Wald. Alles ohne Erfolg, gefunden wird nichts, keine einzige Spur, keine Brille, keine Zahnspange.

Einige Tage später, am 11. November 2001, soll er dann gesehen worden sein. Der Fahrer eines Paketdienstes nimmt gut 30 Kilometer von Eckwälden entfernt einen verschmutzten Tramper mit, der sagt, er heiße Benjamin und wolle nach Göppingen. Der Junge steigt in Aichschieß im Schurwald wieder aus, kurz danach hört der Fahrer im Radio die Suchmeldung, meldet sich bei der Polizei, die aber auch im Remstal keine einzige Spur finden kann. Von da an wird es ruhig, ein sehr harter Winter kommt, eisige Nächte, Dauerfrost. Und keine Nachricht. Die Kriminalpolizei in Göppingen bleibt trotzdem dran, eine Sondernummer ist geschaltet, die Akte offen, aber ohne Ende. Nach dem Winter geht die Polizei von zwei Dingen aus: Ein Verbrechen liegt wohl nicht vor, Benjamin dürfte trotzdem nicht mehr am Leben sein. Aber sicher ist nichts, und das ist Qual für die Seelen der Schneiders. Die Frage „Wo ist er?“ beherrscht die Familie, der Vater mustert jeden Tramper, die Mutter zuckt zusammen, wenn ein Hubschrauber über das Dorf fliegt.

Die Suche nach dem Warum zerrt an den Nerven

Gut ein Jahr nach Benjamins Verschwinden: Das Zimmer des Jungen ist aufgeräumt, sein Schulranzen gepackt, das Bett gemacht. Benjamin bräuchte nur zu kommen, alles wäre vorbereitet. Den Altar im Flur gibt es auch schon, Monika und Reinhard Schneider schreiben immer wieder Briefe an ihren Sohn, die sie neben das ewige Licht legen. Die Trauer ist greifbar, das Suchen nach dem Warum zerrt an den Nerven. Die Familie ist in Behandlung, ein Notfallseelsorger kümmert sich. Die Schneiders nehmen Medikamente, sie können die Seele etwas beruhigen, aber nicht heilen. Am Anfang sind die Medien noch Schlange gestanden. Nach ein paar Monaten ist es ruhiger geworden. Doch Stille belastet, wenn die Fragen weiter brennen.

Monika Schneider sagt damals, dass sie bereit wäre, Abschied zu nehmen. Aber dazu fehlt eine Spur. Dazu fehlt die Gewissheit des Todes. Die hat nur die Bürokratie. So stellt damals das Arbeitsamt die Zahlung des Kindergeldes ein. Mit Bedauern, mit handschriftlicher Begründung des Sachbearbeiters, dass es ihm leid tue, aber letztlich doch bestimmt.

Die Familie einigt sich damals zusammen mit dem Psychologen auf eine Sprachregelung. Benjamin habe einen Spaß machen wollen und sich versteckt. Danach sei ihm die Situation mehr und mehr entglitten. Und genau an diesem Punkt sollten die Schneiders nun nicht mehr weiterdenken. Aber das funktioniert seinerzeit eben nur bedingt. Wenn überhaupt.

Die Eltern können wieder im Alltag leben

Frühjahr 2012: Monika Schneider hat in diesen Tagen mit Freunden ihren 50. Geburtstag gefeiert, sie arbeitet wieder halbtags als Pflegerin. Das Zimmer von Benjamin gibt es so nicht mehr. „Viele Jahre haben wir nur Dinge darin abgestellt, vielleicht wird es mal ein Gästezimmer“, sagt sie. Reinhard Schneider kommt gerade von der Arbeit. Wenn er über Benjamin spricht, strahlt er oft, erinnert sich an seine Streiche. Bruder Manuel hat jetzt eine eigene Wohnung. Und Benjamin: „Er ist in unseren Herzen“, sagt seine Mutter, „wir können natürlich nicht endgültig abschließen, aber der Alltag ist wieder normal.“

Es ist viel passiert zwischen 2002 und heute. Monika und Reinhard Schneider mussten sich nach Benjamins Verschwinden mehr und mehr um Manuel kümmern, der unter der Situation zu leiden hatte, anfangs nur mitlief und am Rande stand bei der atemlose Suche nach dem Bruder. Heute geht es ihm gut, und auch die Schneiders sind noch zusammen. „Man hat uns das Ende unserer Ehe prophezeit“, sagt Monika Schneider, „das sei oft so in solchen Situationen, hieß es.“ Die Schneiders haben aber lieber den Therapeuten verlassen und sind zusammengeblieben. „Unser Glaube hat uns dabei sehr geholfen“, sagt Benjamins Mutter. Und auch die Freunde: „Wir haben das Glück, viele Menschen zu haben, die zu uns stehen.“ Die Schneiders waren nie allein, auch dann nicht, wenn sich wieder mal ein selbst ernannter Wahrsager gemeldet hat, der Benjamin „gespürt“ haben will.

Benjamin soll noch einmal aufgetaucht sein

Geholfen hat ihnen wohl auch die Versöhnung mit der Schule. Jahrelang nagte es vor allem in Reinhard Schneider. Wäre Benjamin noch da, hätten die Begleiter bei der Wanderung einfach besser aufgepasst? Eine Antwort gibt es nicht, aber im Oktober 2011, zehn Jahre nach dem Verschwinden von Benjamin, haben sie alle gemeinsam bei den Schneiders an einem Erinnerungstag Versöhnung gefeiert. Auch Benjamins Lehrer. Es hat gedauert, bis die Schneiders sich der Schule wieder nähern konnten, aber jetzt ist auch das Geschichte.

Das normale Leben ist zurück. „Ich weiß, es klingt komisch“, sagt Monika Schneider „aber an dem Erinnerungstag haben wir auch viel über Benjamin gelacht.“ Sie selbst verbietet sich weiter „jede Spekulation“ darüber, was mit ihrem Sohn passiert sein könnte. Bei Reinhard Schneider ist das anders: für ihn ist es durchaus denkbar, dass sein Sohn noch lebt. Er weiß natürlich nicht wo und schon gar nicht wie.

Benjamin soll noch einmal aufgetaucht sein. Im Frühjahr 2003 will ein ebenfalls behinderter Mitschüler mit ihm in Rottenburg gesprochen haben. Der Vater des Mitschülers war dabei, reagierte aber zu spät. Zwei Tage später will er Benjamin auf einem Foto eindeutig erkannt haben. Und für Reinhard Schneider ist klar: „Wer zwei harte Winter draußen übersteht, der kann alles schaffen.“ Aber warum kommt er dann nicht nach Hause? Darauf weiß auch der Vater keine Antwort. Seine Frau spekuliert nicht, sie sagt aber auch, dass die Spur damals „sehr realistisch“ gewesen ist.

Sie haben ihren Sohn in Rottenburg gesucht

Sie sind danach oft nach Rottenburg gefahren und haben nach ihrem Sohn gesucht, gehofft, sie sehen ihn irgendwo. Sie sahen ihn nicht. Seither gab es keine Spur mehr. Nach all den Jahren sind die Schneiders aber von zwei Dingen überzeugt: Benjamin ist damals ganz bewusst weggelaufen, weil er mit einem Lehrer nicht zurecht kam. Und seine Behinderung musste unbehandelt nicht automatisch zum Tode führen. Auch Manuel wurde wegen Epilepsie damals medikamentös behandelt. Bei ihm verschwand die Krankheit aber mit der Pubertät, heute braucht er keine Mittel mehr. „Benjamin war damals 15, vielleicht ging es bei ihm auch ohne Tabletten“, sagt Monika Schneider.

Am 10. April ist Benjamins 26. Geburtstag. „An so einem Tag ist man natürlich auch heute noch traurig“, sagt Reinhard Schneider. Manchmal durchzuckt ihn der Gedanke, ob er seinen Sohn überhaupt erkennen würde, stünde er tatsächlich plötzlich vor der Tür. „Aber sicher!“, sagt Monika Schneider, „und wir hätten auch die Kraft, ihn wieder aufzunehmen.“ Bis dahin pflegen sie den Altar weiter. Und hoffen.

Die Serie „Vermisst wird. . .“ erscheint in loser Folge.