Das Dilemma unserer Informationsgesellschaft: genervt von zu viel digitaler Post und in ständiger Angst, etwas zu verpassen. Forscher haben herausgefunden, dass es weniger stresst, wenn man Push-Nachrichten ausschaltet. Doch will niemand darauf verzichten.

Stuttgart - Jede neue Mail blinkt penetrant am Bildschirmrand auf, das Smartphone weist mit verschiedenen Tönen auf Facebook-Nachrichten, WhatsApp-Posts, Tweets oder Ebay-Auktionen hin. Diese sogenannten Push-Nachrichten unterbrechen uns immer öfter in unserem Alltag und sind kaum zu ignorieren. „Genau dafür sind sie gemacht“, sagt Niels Henze vom Institut für Visualisierung der Uni Stuttgart: „Entwickler haben ein Interesse daran, diese Nachrichten zu generieren.“ Unsere Aufmerksamkeit ist ihre Währung: jeder Klick steigert den Wert einer App.

 

Während Arbeitsforscher vor der wachsenden Zahl an Unterbrechungen warnen, die unseren Arbeitsprozess ineffektiv machen, planen die großen Computerkonzerne schon die Zukunft: Google und Apple arbeiten an Benachrichtigungen, die über alle Gerätegruppen hinweg angezeigt werden – vom Smartphone über den Tablet-PC hin zum Desktop. Viele Menschen sind aber genervt von zu vielen Benachrichtigungen – und haben gleichzeitig große Angst, ohne sie etwas verpassen zu können. Informatiker arbeiten an einer Lösung.

Niels Henze hat die Zukunft mit seiner Arbeitsgruppe bereits vorweggenommen: sie programmierten eine Android-App, die Handy-Benachrichtigungen direkt auf den Desktop weiterleitet. Mit Erfolg: die App „Desktop Notifications“ (im Google Play Store kostenlos erhältlich) hat inzwischen 60 000 aktive Nutzer weltweit. Henze hat mit dieser App erforscht, welche Bedeutung die Benachrichtigungen für die Probanden haben. Er sammelte Daten darüber, wie schnell die Nutzer sie lasen, und fragte per Online-Fragebogen, wie wichtig ihnen die jeweilige Nachricht war.Doch so sehr das ständige Aufploppen von Benachrichtigungen und die damit verbundenen Unterbrechungen uns auch nerven, irgendwie können wir trotzdem nicht darauf verzichten. Forscher von Microsoft Research baten Probanden bereits im Jahr 2009, eine Woche lang auf Outlook-Benachrichtigungen zu verzichten und ihren Maileingang nur hin und wieder zu überprüfen. Die Nutzer gaben an, sich weniger gestresst zu fühlen und effektiver arbeiten zu können. Dennoch schalteten alle ihre Benachrichtigung danach wieder ein.

Eine App bringt alle Nachrichten auf den PC

Auch die 60 000 aktiven Nutzer, die die Stuttgarter Studie zur größten ihrer Art werden ließen, haben freiwillig eine App gewählt, die alle Benachrichtigungen des Handys auch auf dem PC anzeigt und lassen sich bewusst wegen jeder SMS und jeder Nachricht in ihrem Arbeitsfluss unterbrechen. Wieso, das kann Henze nur mutmaßen: Sie fürchten, etwas zu verpassen.

Das bestätigt Martin Pielot von Telefonica Research in Barcelona: „Die Menschen haben Angst, Erwartungen zu enttäuschen, wenn sie nicht schnell auf eine Nachricht antworten.“ Der Informatiker hat Handy-Nutzer zum Thema Notifications (deutsch: Benachrichtigung oder Mitteilung) befragt und ihr Verhalten anschließend ausgewertet. Mehr als die Hälfte seiner Probanden gab an, eine Nachricht sofort oder innerhalb weniger Minuten zu beantworten. Auch die technische Auswertung bestätigte das: Die Nutzer lasen ihre Notifications prompt: die Hälfte innerhalb von drei Minuten, ein Viertel gar innerhalb von einer Minute.

Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen der Art der Benachrichtigung und dem Stressempfinden der Nutzer. So waren die Probanden in der Regel nicht von Informationen über neue Nachrichten auf Facebook oder WhatsApp genervt – auch wenn sie bestätigten, dass sie einen gewissen Druck empfanden, schnell zu antworten. „Die Leute fühlten sich dadurch verbundener mit anderen“, sagt Pielot. Mit zunehmender Zahl von Benachrichtigungen über eingegangene E-Mails hingegen fühlten sie sich gestresst von der vermuteten Erwartungshaltung des Absenders. Pielot führt das darauf zurück, dass die Mails häufig berufliche Hintergründe hatten.

Zwischen Genervtsein und der Angst, etwas zu verpassen

Diese Diskrepanz zwischen der Angst, etwas zu verpassen, und dem Genervtsein über ständige Unterbrechungen führte die Forscher zur Frage, wie wir in Zukunft Benachrichtigungen empfangen wollen. Die Stuttgarter App lässt bereits eine erste Steuerung zu: Die Nutzer können entscheiden, von welcher App sie Nachrichten auf welchem Gerät empfangen möchten. Zudem sollten die Nutzer künftig einstellen können, dass sie beispielsweise nur Nachrichten über Mails bestimmter Absender bekommen. „Das wird aber nicht für alle Menschen funktionieren“, vermutet Henze. Man braucht Zeit und die Bereitschaft, sich hineinzudenken. Eine andere Möglichkeit wären selbst lernende Notifications, die speichern, wie der Nutzer reagiert, und daraus ableiten, welche Nachrichten er in Zukunft bekommen möchte. Dabei steigt aber die Gefahr, dass Nutzer etwas verpassen, weil die Technologie etwas falsch eingeschätzt hat, warnt Henze: „Ein Mechanismus, der kein Feedback des Nutzers braucht, ist schwierig.“Microsoft Research forscht daran, wie im Desktop-Bereich Notifications verzögert und zu einem passenden Zeitpunkt zugestellt werden könnten. Menschen haben mentale „Breakpoints“, Zeitpunkte, zu denen eine Unterbrechung passend ist. Häufig ist dies der Fall, wenn sie auf dem Computer einen Ordner schließen. So könnte die Technologie solche Zeitpunkte erkennen. Auch auf Smartphone-Benachrichtigungen könnte man das übertragen: Sensoren können beispielsweise feststellen, ob das Telefon gerade in der Tasche ist oder wann es zuletzt benutzt wurde. Daraus können Algorithmen die Wahrscheinlichkeit berechnen, nach der ein Nutzer gerade beschäftigt ist. „Das würde allerdings das Problem der Erwartungshaltung ignorieren“, warnt Pielot. Deshalb wäre ein Feedback an den Sender einer Nachricht wichtig. Pielot hat dafür die App „Call me maybe“ entwickelt, die dem Partner eines Nutzers anzeigt, ob dieser mutmaßlich gerade beschäftigt ist und ob er mit einer schnellen Antwort rechnen kann.

Aber jenseits aller technischen Lösungen muss sich die Gesellschaft einen Umgang mit den zunehmenden Unterbrechungen erarbeiten, sagt Peilot: „Wir müssen Regeln finden, wie wir uns nicht zum Sklaven machen lassen.“ Vielleicht müssen wir ja nicht immer erreichbar sein und nicht alle Nachrichten sofort beantworten.