Immer mehr Künstler in Stuttgart organisieren sich jenseits etablierter Strukturen. Die Gruppe von den Waggons am Nordbahnhof hat sich inzwischen neu aufgestellt – auch, weil der Umzug an den Güterbahnhof so kompliziert ist.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Marco Trotta kennt die städtische Ämterstruktur, die Feinmechanik der Kulturförderung und die Verästelungen der Deutschen Bahn so gut, dass man ihn weniger für einen Künstler halten könnte als vielmehr für einen Eventprofi. Doch der Performancekünstler, den manche von der Bar am Palast der Republik in der Stuttgarter Innenstadt kennen, fuchst sich nur für die Kunst in den Bürokratenkram rein. Die Gänge aufs Amt, in die Bezirksbeiräte und zur Bahnverwaltung sind nicht Selbstzweck. Sondern sie sollen dazu führen, dass die Künstlerkommune aus den Waggons am Nordbahnhof endlich in die Container auf dem ehemaligen Güterbahnhofgelände in Bad Cannstatt ziehen kann.

 

Die Geschichte dieses Umzugs beginnt im Januar 2011 mit einem Kündigungsbrief der DB Immobilien GmbH. Die Waggons, in denen die Künstler verschiedenster Sparten in der Nähe zu Nordbahnhof und Wagenhallen bis dahin gelebt und gearbeitet hatten, müssten binnen weniger Wochen geräumt werden, so die Aufforderung. Die Künstler waren geschockt, sie baten öffentlich um Hilfe und fanden viel Beachtung durch die Medien und Kommunalpolitiker. Und sie wurden von einem mehr oder weniger chaotischen Haufen binnen anderthalb Jahren zu einem gut organisierten Verein, den scheinbar nichts von dem Umzug an die neue Heimat beim einstigen Güterbahnhof aufhalten kann, einen Stein setzen sie dafür auf den anderen und sind vor allem: hartnäckig.

Vieles läuft spontan

Durch Struktur und Zusammenarbeit entsteht ein künstlerischer und öffentlicher Mehrwert. Marco Trotta, der Sprecher der Waggons-Künstler, springt auf dieses Thema sofort an. Die Geschichte der Waggons am Nordbahnhof ist nämlich auch eine über die Selbstorganisation von Vertretern eines Menschenschlags, der nicht für stramm durchgezogene Arbeitspläne bekannt ist. Und tatsächlich läuft am Nordbahnhof, wo die Künstler wegen des sich immer weiter verzögernden Stuttgart-21-Baubeginns und diverser Schwierigkeiten mit dem Güterbahnhof-Gelände immer noch ansässig sind, einiges auf seine ganz eigene Weise.

Was nicht schlecht sein muss. Als die „72 Hours Urban Action“ in die Stadt kam und der Nukleus der Kunstaktion in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Waggons lag, „da hat einer gemailt: Hey, hier kommt ein internationaler Architekturwettbewerb zu uns und hier auf dem Gelände sieht es ganz schrecklich aus“, erzählt Trotta. Und plötzlich seien Leute, die man seit Monaten nicht gesehen hat, zum Inneren Nordbahnhof geströmt, hätten gehämmert und gebastelt und verschönert, dass es eine Freude war. „Inzwischen ist bei den Waggons fast schon wieder so viel aufgebaut wie vor dem Räumungsbescheid“, erzählt Trotta hocherfreut. Spontan läuft bei Künstlern eben besonders viel.

Selbstvermarktung auf dem Stundenplan

Bei den Waggons-Künstlern gibt es gemeinsame Aktionen seit 2004. Die erste Generation der Ateliergemeinschaft „Bauzug 3yg“ war gerade in Richtung der Wagenhallen gezogen und neue Künstler ihnen nachgefolgt. Rund um den schon damals höchst aktiven Konzert- und Disco-Waggon des Vereins Für Flüssigkeiten und Schwingungen gab es einzelne Events, es bildeten sich Netzwerke und spezielle Veranstaltungswaggons. Auch ein Gemeinschafts-Waggon wurde erstmals eröffnet. Hier trafen sich die Künstler, hier verabredeten sie sich zu gemeinsamen Veranstaltungen wie den Winterleuchten oder dem Yard-Festival. „Da ist dieses Wir-Gefühl entstanden“, erinnert sich Marco Trotta.

Es war eine Mischung aus gemeinsamen Anlaufpunkten, wachsenden Künstlernetzwerken und einer neuen Generation, die bei den Waggons ein Künstlerkollektiv entstehen ließ. „Bei allen Kunststudenten steht heutzutage auch Selbstvermarktung auf dem Stundenplan“, weiß Marco Trotta. Gemeinsam ist man aber stärker als allein, das haben die Waggons-Künstler früh gemerkt. Und nur gemeinsam lassen sich eine Theaterbühne aus Holz zimmern, Großveranstaltungen stemmen, kann man sich einen Namen machen als Anlaufstelle für alternative und Subkultur in der Stadt. Genau das sind die Waggons am Nordbahnhof seit Jahren.

Der Umzug ist noch nicht in trockenen Tüchern

Man war also in einer recht komfortablen Lage, als die Bahn sagte: Weg von hier! In der Folge waren es einige wenige, die den Dialog mit den Behörden und Staatsunternehmen suchten und managten. Weil sie der Politik mit Konzepten kamen statt nur mit Forderungen, hörte man ihnen zu. Nachdem die Zuckerfabrik als Ersatzstandort ausfiel, bot die Stadtverwaltung ein Gelände am ehemaligen Güterbahnhof in Bad Cannstatt an. Der Umzug ist noch lange nicht in trockenen Tüchern, aktuell kämpfen Marco Trotta und die anderen vom Verein Contain’t um Fördergelder. Doch die Gemeinschaft fühlt sich stark genug, diesen Weg bis ans Ende gehen zu können – weil sie inzwischen gut organisiert ist.

„Der Druck von außen hat bei der Selbstorganisation sicher eine Rolle gespielt“, sagt Marco Trotta. Da musste ein Sprecher benannt werden – das war er. Es mussten Konzepte geschrieben werden, dafür brauchte es Beschlüsse aller Beteiligten. Ein Portfolio wurde erstellt, in dem sich alle Waggons-Künstler mit Beispielen ihrer Arbeit präsentierten. Es gab gefühlt mehr gemeinsame Kunstveranstaltungen als in den ganzen Jahren davor.

Ein Schritt hin zum professionellen Kulturbetrieb

Der neue Verein, der im Kern aus Waggons-Veteranen besteht, will mit seiner Struktur die Vorteile der Zusammenarbeit, Manager würden sagen: die Synergien weiter nutzen. „Das Verplantsein, das Nicht-Anderthalb-Jahre-im-Voraus-Planen, die unkommerzielle Haltung, das wollen wir uns bewahren“, so sagt es Marco Trotta. Man wolle trennen zwischen gewinnorientierten Tätigkeiten – einem Barbetrieb zum Beispiel – und zwischen den künstlerischen Aktivitäten. Contain’t e.V. hat sich zwar eine recht detaillierte Struktur gegeben. „Aber es soll trotzdem alles so weit wie möglich zugangsoffen sein“, sagt Marco Trotta.

Durch den Umzug und den intensiven Kontakt mit den Behörden haben die Waggons-Künstler freilich einen Schritt gemacht hin zu einem „professionellen“ Kulturbetrieb. Jeder hat seine festen Aufgaben, es gibt Arbeitsgruppen und Abteilungen – „damit man nicht immer gegen dieselbe Wand fährt“, sagt Sprecher Marco Trotta. Den Freiraum wollen sich die Künstler aber auch am ehemaligen Güterbahnhof erhalten.

Der Güterbahnhof ist ein geeigneter Ort

„Für den so oft angesprochenen Mehrwert braucht es vor allem einen stimmigen Raum“, findet Trotta. Die Waggons waren so ein Raum, der Güterbahnhof soll einer werden – selbst wenn es irgendwann wie bei anderen Kulturbetrieben auch eine bezahlte Stelle fürs Organisatorische gibt. „Ehrenamtliche Zuarbeit muss es dann trotzdem noch geben“, sagt Marco Trotta, „aber so wie es jetzt läuft, ist nicht die Frage: wie lange wollen die Leute das komplett ehrenamtlich machen – sondern wie lange können sie es?“

Reihe Die StZ stellt Künstlerkollektive aus der Region Stuttgart vor, die sich jenseits etablierter Strukturen organisieren. Zuletzt wurde die Gruppe Outer Rim präsentiert, die am Freitag und Samstag das Urban-Art-Festival „Kunst im Club“ organisiert hat.