Wer 560.000 PS bändigen will, braucht sehr spezielle Anlagen. Die gibt es nur in Lampoldshausen nordöstlich von Heilbronn.  

Heilbronn - Achtung, Achtung! Einminutenwarnung am Prüfstand P3!" Tief im Wald der Gemeinde Hardthausen nordöstlich von Heilbronn steht mal wieder ein großes Feuerwerk bevor. Europas derzeit stärkstes Raketentriebwerk, das unter dem Namen Vinci entwickelt wird, soll einen Testlauf absolvieren. Eine Lautsprecherstimme scheucht auf dem Versuchsgelände in Lampoldshausen die Mitarbeiter aus dem Umfeld des Prüfstands P3.

 

In dem turmhohen Betonbau ist senkrecht die Schubkammer des Raketentriebwerks montiert, das von 2016 oder 2017 an die Oberstufe der Europarakete Ariane 5 ersetzen soll. Ariane 5 ME, wie sie heißen wird, soll dann bis zu zwölf Tonnen Last in eine Erdumlaufbahn befördern können; bis jetzt sind es zehn. Außerdem kann das neue Triebwerk, das den Namen des großen Renaissancekünstlers und Ingenieurs Leonardo da Vinci trägt, bis zu viermal während des Flugs neu gezündet werden. Das erlaubt es, die Rakete und mit ihr unter Umständen mehrere Nutzlasten auf unterschiedliche Erdumlaufbahnen zu heben. Bis dahin aber steht den Ingenieuren noch viel Arbeit bevor - einschließlich der nötigen Tests auf dem 35 Hektar großen Versuchsgelände in Lampoldshausen.

Unterhalb des Betonturms des Prüfstands P3 wird bei den Tests der Abgasstrahl des Triebwerks in einem gewaltigen Rohr aus der Senkrechten in die Waagerechte gelenkt. Vor dem Abgasaustritt wartet, rot angestrichen, die Schurre. Diese schräge Stahlwanne, die an eine Kinderrutsche erinnert, wird den Abgasstrahl auffangen und nach oben ablenken. Doch zunächst kann aus dem Abgasrohr gar kein Strahl kommen. Es ist nämlich mit einem Deckel verschlossen. Die Oberstufe der Ariane ist für den Betrieb unter Weltraumbedingungen gedacht; der Zünder muss im Vakuum funktionieren, nicht unter irdischen Bedingungen. Also herrscht in Teilen der Versuchsanlage eine Minute vor dem Test noch ein Vakuum von wenigen Dutzend Millibar. (Der normale Luftdruck beträgt etwa ein Bar.)

18 Tonnen Schub entwickelt Europas Raketenantrieb der Zukunft

Kurz vor der Zündung schießen plötzlich Wasserstrahlen parallel zum Abgasrohr hervor. Die Schurre wird gekühlt, damit sie in dem Abgasstrahl, der im Kern 3500 Grad heiß wird, nicht schmilzt. Es folgt ein gewaltiges Getöse. Der Deckel des Abgasrohrs fliegt davon, und hervor bricht der Feuerstrahl. Von nun an erzeugt der Abgasstrahl selbst das Vakuum, das die Schubkammer braucht. Weiße Dampfwolken steigen hoch über das Versuchsgelände, denn das Abgas ist fast reiner Wasserdampf. Aus den beiden Kammern des Tanks von Vinci strömen reiner Wasserstoff bei minus 250 Grad Celsius und reiner Sauerstoff bei minus 180 Grad Celsius.

Trotz der gewaltigen Temperaturen im Inneren der Brennkammer schaffen es die Ingenieure durch eine raffinierte Strömungsführung, dass sich an deren Außenwand ein Film aus flüssigem, kühlendem Wasser bildet. Für jeden Test sind deshalb nicht nur große Mengen Wasserstoff und Sauerstoff, sondern auch Wasser nötig. Auf einem Hügel oberhalb des Prüfstands P3 und seines Nachbarn P4 bunkern die Ingenieure 6000 Kubikmeter Wasser. Besonders stolz sind sie darauf, dass sie auf ihrem Prüfstand P4 nicht nur das komplette Triebwerk Vinci unter Vakuumbedingungen testen können, sondern dass sie dort auch die gesamten 6000 Kubikmeter Wasser wieder auffangen können - bis auf wenige, die als Dampfwolke aufsteigen.

18 Tonnen Schub entwickelt Europas Raketenantrieb der Zukunft. "Damit können Sie neun VW-Golf in der Schwebe halten", sagt Gerald Hagemann von Astrium, dem Unternehmen, das die Systemführerschaft bei der Entwicklung der Ariane 5 ME (Mid-Life Evolution) hat. Die Leistung des Vinci-Triebwerks entspricht dem eines kleinen Kraftwerks: 411 Megawatt oder 559.000 PS. Diese Leistung soll Vinci später bis zu 3000 Sekunden lang liefern, also bis zu 50 Minuten. 13 Minuten davon werden für den Aufstieg der Rakete gebraucht, der Rest steht in vier weiteren Zündphasen für Bahnänderungen zur Verfügung.

Die Amerikaner sind neidisch

Bis das funktioniert, steht den Ingenieuren noch eine Menge Arbeit bevor - obwohl an dem Konzept schon seit ersten Entwürfen 1997 entwickelt wird, allerdings mit Unterbrechungen. Am meisten gefürchtet seien Instabilitäten in der Verbrennung, sagt Hagemann. Um die Reaktion des Triebwerks darauf zu testen, zünden die Techniker während mancher Tests kleine Bomben im Triebwerk. Nach der Detonation muss die Verbrennung sich wieder stabilisieren. Sein Kollege Jörg Krüger weist auf eine andere technische Herausforderung hin: Der Vorgänger von Vinci, Vulcain genannt, konnte nur einmal gezündet werden. Was passiert, wenn Vinci im Weltraum neu gezündet wird? Die Tanks sind dann nicht mehr voll, der Treibstoff schwappt in der Schwerelosigkeit irgendwo herum, nur nicht dort, wo er sofort zur Zündung zur Verfügung steht. Auch dies muss man in den Griff bekommen.

Die Prüfstände P3 und P4 seien "einmalig in Europa", sagt Stefan Schlechtriem, Leiter des DLR-Instituts für Raumfahrtantriebe. "Auch die Amerikaner sind neidisch darauf." Aber auf dem Testgelände im Wald von Lampoldshausen sind seit der Gründung 1959 zahlreiche Prüfstände gebaut worden. P8 zum Beispiel ist seit 15 Jahren in Betrieb. Partnerfirmen und -organisationen aus ganz Europa testen hier bei rund 85 Versuchen im Jahr wichtige Komponenten von Raketensystemen.

Einer dieser Tests folgt dem Vinci-Test. Etwa eine Stunde ist vergangen, da dröhnt erneut die Lautsprecherstimme über das Testgelände: "Achtung, Achtung! Zwanzigminutenwarnung am Prüfstand P8."

Das Versuchsgelände Lampoldshausen

Anfänge: 1957 kam der Raketenpionier Eugen Sänger an die Uni Stuttgart und baute das Forschungsinstitut für Physik der Strahlantriebe auf. Zwei Jahre später fand er in der Gemeinde Hardthausen nordöstlich von Heilbronn ein Gelände zum Testen von Raketenantrieben, das heute zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) gehört. DLR und das Raumfahrtunternehmen Astrium teilen sich das 35 Hektar große Gelände. Mit seinen 200 DLR- und 300 Astrium-Mitarbeitern ist das Zentrum der größte Arbeitgeber in Hardthausen. Getestet werden Raketenantriebe aller Größen; Astrium entwickelt und testet dort zudem Satellitenantriebe.

Neubau: Am 6. Juni wird direkt vor dem Tor des streng gesicherten Geländes der Grundstein zu einem 4,9 Millionen Euro teuren „Forum für Raumfahrtantriebe“ gelegt. Hier sollen bis 2012 ein Museum, Hörsäle, ein Schülerlabor und die Verwaltung Platz finden.

Ariane: Europas Trägerrakete wird seit den 80er Jahren als kommerzieller Transporter eingesetzt und weiterentwickelt. Sie hat Fernsehsatelliten und unbemannte Sonden zur Weltraumforschung ins All gebracht und wird als Träger für moderne Kommunikationssatelliten eingesetzt. 2008 brachte eine Ariane-Rakete das Automated Transfer Vehicle (ATV) mit einem Antrieb aus Lampoldshausen zur Internationalen Raumstation ISS.

Konferenz: Am Montag findet im Stuttgarter Haus der Wirtschaft eine Raumfahrtkonferenz zum Thema „Missionen aus Baden-Württemberg“ statt. Vorträge halten Forscher des DLR, der Uni Stuttgart und anderer Forschungseinrichtungen. Die Eröffnungsrede hält Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid.