Zum ersten Mal seit fünf Jahren ist die Zukunft der europäischen Verteidigungspolitik ein Thema für den Gipfel der Staats- und Regierungschefs.

Brüssel - Über eine EU-Armee ist in der Vorbereitung des heute in Brüssel beginnenden Gipfels erst gar nicht geredet worden. Dabei hat eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung gerade ergeben, „dass ein bedeutender Mehrwert durch die Schaffung kleinerer und besser koordinierter europäischer Landstreitkräfte erzielt werden könnte“. Wenn bestimmte Einheiten nicht mehr überall vorgehalten würden und die Zahl der Heeressoldaten in den 27 Mitgliedstaaten von jetzt 890 000 auf 600 000 sinke, könnten 6,5 Milliarden Euro im Jahr gespart werden, schreiben die Autoren.

 

Aber nicht einmal die von Deutschland, Frankreich und Polen 2010 ventilierte Idee eines EU-Militärhauptquartiers zur Steuerung gemeinsamer Operationen wurde für den Gipfel der 28 Staats- und Regierungschefs reaktiviert. „Wir haben einen Punkt erreicht“, klagt ein Militär aus einem großen Mitgliedstaat, „an dem es nicht weitergeht.“ Dazu tragen unter anderem die neutralen Iren und Österreicher bei, vor allem aber die immer EU-kritischeren Briten.

In London ist die Sichtweise eine ganz andere als in Brüssel oder Berlin. Für die Bundesregierung etwa ist klar, dass die Amerikaner von den Europäern erwarten, vor der eigenen Haustür mehr sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Das findet sich wortgleich in einer Mitteilung der EU-Kommission, die ergänzt: „Um ihr Gewicht zu stärken, braucht die EU eine glaubwürdige GSVP.“ Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, für die das Kürzel steht, schwächt aus Sicht der britischen Regierung dagegen den Nordatlantikpakt – die Nato. „Mit jedem Schritt, den wir in Richtung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehen“, sagte kürzlich Martin Callanan, Premier David Camerons wichtigster Mann im Europaparlament, „entfernen sich die USA einen Schritt von der Nato.“ Mehr als diese braucht es ihm zufolge nicht: „In diesen herausfordernden Zeiten können wir es uns nicht leisten, in Brüssel zwei Verteidigungsbündnisse zu betreiben.“

Die klammen Staatsetats zwingen zu Kooperation

So konzentriert sich der EU-Gipfel auf das wenig Unumstrittene – etwa die Notwendigkeit, in Zeiten klammer Etats enger zu kooperieren. Militärausgaben sind EU-weit seit 2001 von 251 Milliarden Euro im Jahr auf 194 Milliarden gesunken. Und das hat Folgen: So offenbarte etwa der Nato-Libyen-Einsatz „bedeutende europäische Defizite“, schreibt die EU-Kommission, da „heutzutage viele Mitgliedstaaten Probleme haben, ihre Streitkräfte adäquat auszustatten“. Die Amerikaner mussten einspringen, weil die Europäer ihre Kampfjets nicht in der Luft betanken konnten.

Der EU-Gipfel wird daher den offiziellen Startschuss für die gemeinsame Entwicklung von vier militärischen Fähigkeiten geben. Unter der Federführung der Niederländer sollen bis 2020 moderne Tankflugzeuge zur Verfügung stehen. Die europäische Rüstungsagentur wird die Bemühungen der Mitgliedstaaten koordinieren, um die nächste Generation hochauflösender Satellitenbilder zu bekommen. Im Bereich der Cyberabwehr soll eine Fülle kleinerer Projekte gefördert werden.

Stets jedoch geht es um Kooperationen der Mitgliedstaaten, für die die Verteidigungspolitik der Kern ihrer Souveränität bleibt, und nicht um ein Handeln der EU. Wenig überraschend ist daher, dass sich ein Vorschlag der EU-Kommission, dass militärisches Gerät auch „von der Gemeinschaft direkt gekauft, besessen und eingesetzt“ werden könnte, nicht im Entwurf der Gipfelerklärung wiederfindet.

Sieben Staaten wollen bisher bei der Drohne mitmachen

Die meiste Aufmerksamkeit jedoch wird dem vierten Vorhaben zuteil, der Entwicklung unbemannter Flugzeuge, einer europäischen Drohne also. Im Textentwurf für den Gipfel wird der „Zeitrahmen 2020 bis 2025“ angegeben, bis zu dem eine technologisch hochwertige Drohne entwickelt werden soll, die zwischen fünf und 15 Kilometern hoch und mehr als 24 Stunden am Stück fliegen können soll. Bereits 2016 sollen die rechtlichen Grundlagen für den europäischen Luftraum stehen.

Es soll eine „Benutzergemeinschaft eingerichtet“ werden, wobei bereits „sieben Mitgliedstaaten ihre Teilnahmebereitschaft ausgedrückt haben“. Vergangene Woche hat die Bundestagsfraktion der Linken eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, ob sie dies für Deutschland bekundet hat. Zumindest ist in Kreisen deutscher Diplomaten in Brüssel zu hören, Drohnen seien „eine Zukunftstechnologie, die nicht nur aus militärischer Sicht in Europa etwas unterbelichtet ist“.

Opfer der Wirtschaftskrise ist nicht nur das Militär selbst, sondern auch die europäische Rüstungsindustrie, wie nicht zuletzt der vergangene Woche angekündigte massive Stellenabbau beim Konzern EADS gezeigt hat. Nun soll die Branche mit einem Jahresumsatz von aktuell 96 Milliarden Euro und 400 000 direkt und 960 000 indirekt Beschäftigten gestärkt werden. Die EU-Kommission strebt einen „einheitlichen Rüstungsmarkt“ an und will dafür technische Standards und Zertifizierungsprozesse angleichen, die bis jetzt oft noch der grenzüberschreitenden Ausschreibung im Weg stehen. Auch EU-Forschungsgelder sollen verstärkt zum Einsatz kommen, um sogenannte Dual-Use-Produkte zu fördern, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen können. Die weiter gehende Forderung der Italiener, Gelder aus dem Forschungsprogramm „Horizont 2020“ auch direkt der Rüstungsindustrie verfügbar zu machen, lehnt die Bundesregierung strikt ab.

Frankreich fordert EU-Topf für gemeinsame Militäreinsätze

Um die aktuellen Einheiten und Einsätze der Europäer wird es ebenfalls gehen. 7000 Männer und Frauen dienen in zwölf zivilen Krisenmissionen, darunter die Polizeiausbildung in Afghanistan, und vier militärischen Operationen. Als größter Erfolg gilt dabei der Antipiraterie-Einsatz „Atalanta“ am Horn von Afrika. Beim EU-Gipfel wird nun erneut betont werden, dass die Gemeinschaft auch bereit ist, den Kosovo-Einsatz von der Nato zu übernehmen. Außerdem sollen auf deutsche Initiative hin die beiden EU-Battlegroups, die seit ihrer Einrichtung 2007 noch nie in Marsch gesetzt wurden, „flexibler und einsatzfähiger“ werden, wie es im Gipfeltextentwurf heißt. Dazu sollen – weil dies beispielsweise in Somalia und in Mali die Hauptaufgabe ist – Ausbildungseinheiten an die Battlegroups angedockt und die Finanzierungsfrage neu geregelt werden. Bis jetzt zahlt das Mitgliedsland, das dem Rotationsprinzip folgend gerade die meisten Soldaten für die EU-Kampftruppe abstellt. „In der Praxis“, sagt ein belgischer EU-Diplomat, „war das bisher der größte Hinderungsgrund für einen Einsatz.“

Die Geldfrage dürfte der einzig wirkliche Streitpunkt beim verteidigungspolitischen Teil des EU-Gipfels werden – zu den übrigen Fragen wurde schon im Vorfeld weitgehend Konsens hergestellt. Frankreichs Staatschef François Hollande nämlich fordert einen dauerhaften EU-Topf zur Finanzierung dringender Militäreinsätze wie in der Zentralafrikanischen Republik. Derzeit beteiligt sich die EU an den Kosten der afrikanischen multilateralen Truppe, nicht aber am französischen Einsatz. „Wir bräuchten einen ständigen europäischen Fonds“, sagte Hollande nun in der vergangenen Woche. Bei den EU-Partnern stößt er damit auf Unverständnis; aus der belgischen Regierung etwa heißt es, Paris wolle die gemeinsame Sicherheitspolitik „im eigenen nationalen Interesse in Afrika einsetzen“. Und aus deutschen Diplomatenkreisen ist zu hören, man sei von Hollandes „Unterton ziemlich genervt“. In der Konsequenz nämlich werde die EU sonst der Nato immer ähnlicher: „Einer sagt, was gemacht wird, und alle zahlen.“