Im Rössle laufen die Vorbereitungen für das Pokalfinale. In der Berliner Kneipe ist die Heimat der „Cannstatter Kurve Berlin“, des mit rund 140 Mitgliedern größten VfB-Fanclubs außerhalb Baden-Württembergs.

Berlin - Es ist Donnerstagabend, draußen regnet es, drinnen gibt es viel zu tun. Eben war der Getränkelieferant da und hat neben etwas Cola und Mineralwasser auch 140 Kisten Bier und 100 Flaschen Schnaps abgeladen. Auf der Theke stehen eingeschweißte Minisalamis und Schokoriegel in Pappkartons. Niemand weiß genau, ob das alles reichen wird, wenn am Samstagabend der große Ansturm kommt. Denn keiner kann abschätzen, wie viele Leute tatsächlich erscheinen werden, ob es am Ende hundert sind oder eher fünfhundert. Sicher ist nur: wenn der VfB Stuttgart im DFB-Pokalfinale gegen den FC Bayern München spielt, dann wird es im Rössle in Neukölln so voll wie nie zuvor.

 

Das Rössle liegt im Erdgeschoss eines grauen Mietshauses in der Braunschweiger Straße und ist nicht nur an diesem Wochenende die Anlaufstelle für VfB-Fans in Berlin. Es ist umgeben von Wettbüros, Imbissbuden und grimmigen jungen Männern an den Straßenecken, von denen man nicht genau wissen will, welchen Geschäften sie nachgehen. Mitten im Stammgebiet alteingesessener Hertha-Fans liegt die Kneipe, über der ein Schild der Dortmunder Aktienbrauerei hängt. Drinnen aber gibt es gibt es Stuttgarter Bier, für faire 1,70 Euro die Flasche. Hier ist die Heimat der „Cannstatter Kurve Berlin“, des mit rund 140 Mitgliedern größten VfB-Fanclubs außerhalb Baden-Württembergs.

Hirschgulasch in der Weihnachtszeit

Vor drei Jahren hat der Fanclub den heruntergekommenen Laden für eine schmale Miete übernommen, mit viel Arbeit und noch mehr Herzblut kernsaniert und in Weiß und Rot getaucht. Trikots aus verschiedenen Epochen hängen an den Wänden; das von Martin Harnik ist sogar handsigniert. Der VfB-Stürmer ist dem Fanclub vergangenes Jahr als Stargast der Weihnachtsfeier zugelost worden und hat mit den Mitgliedern im Rössle selbst zubereitetes Hirschgulasch gegessen. Es war der bisherige Höhepunkt.

Und nun also das Pokalfinale vor eigenen Haustür, die Krönung in der fünfjährigen Vereinsgeschichte der Cannstatter Kurve Berlin. „Für uns ist es das Spiel der Spiele“, sagt der Vorsitzende Björn Isern, ein 32-jähriger Banker, der einst zum Studieren aus Ostfildern nach Berlin gekommen und anschließend hier geblieben ist. Mehr als 20 000 VfB-Fans reisen an diesem Wochenende in die Hauptstadt, im Flugzeug, in Autos, in Sonderzügen. Sie alle hoffen auf das große Wunder am Ende einer ernüchternden Saison und darauf, dass das Beste immer zum Schluss kommt. An der Gedächtniskirche ist am Mittag ihr Treffpunkt vor der Fahrt ins Olympiastadion. Im Rössle versammeln sich am Abend all jene, die keine Eintrittskarten bekommen haben. Die Stadt ist voller VfB-Fans – und ein paar davon sitzen sogar im noblen Grunewald ganz im Westen Berlins.

Nirgendwo ist Berlin teurer

Nur neun S-Bahn-Haltestellen sind es von der Braunschweiger in die Brahmsstraße – doch es ist eine Reise in eine andere Welt. Nirgendwo ist Berlin teurer und wahrscheinlich auch nirgendwo sauberer. Alte Bäume stehen an den Straßen, prächtige Villen aus der Kaiserzeit hinter hohen  Zäunen. Eine davon beherbergt das Schlosshotel, in dem der VfB sein Quartier bezogen hat. Einen besseren Ort, um sich auf das aussichtslos erscheinende Duell mit den Bayern vorzubereiten, hätten die Stuttgarter nicht finden können: Hier hat einst die deutsche Nationalelf ihr Sommermärchen erlebt, während der Weltmeisterschaft 2006, als Jürgen Klinsmann in Zimmer 41 in der dritten Etage nächtigte.

Kerstin Papst sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen im Kaminzimmer des Hotels, weit über ihr ein Kronleuchter, an der Wand ein altes Ölgemälde, gewachstes Fischgrätparkett am Boden. Gemeinsam mit der Direktorin Sara Torralvo organisiert die junge Frau den Aufenthalt der Fußballgäste. Sie tut das regelmäßig. Das Schlosshotel im Grunewald ist wegen seiner Ruhe, seines Luxus und seiner Historie ein beliebtes Ziel für Profimannschaften. „Wir alle im Haus haben eine hohe Fußballaffinität“, sagt Papst und verspricht, dass man geschlossen dem VfB die Daumen drücken werde: „Wir sind natürlich immer für die Mannschaft, die bei uns wohnt.“

So einfach liegen die Dinge bei echten Fans nicht – schon gar nicht im Rössle in Neukölln. Seinen Verein sucht man sich nicht aus, seinem Verein bleibt man auch fern der Heimat treu, selbst wenn es nicht immer leichtfällt. Für den Fanclub Cannstatter Kurve Berlin ist es in dieser Saison sogar besonders schwer gewesen. Mehr als einmal haben sie sich in die Sinnfrage gestellt, wenn sie entweder morgens um fünf von verlorenen Auswärtsspielen zurückgekehrt sind oder zu Beginn der Übertragungen nur sechs Leute im Rössle begrüßen durften. „Da fragt man sich dann: Wofür betreiben wir den ganzen Aufwand?“, sagt Björn Isern. „Es war teils sehr frustrierend.“

„Das Finale ist total unverdient“

In der Bundesliga sind die Stuttgarter nur Zwölfter geworden, in der Europa League haben sie kein Heimspiel gewonnen und ihr Publikum mit teils quälend schlechten Leistungen auf eine harte Probe gestellt. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass der VfB im Pokalfinale stehen würde, hätte er in diesem Wettbewerb nicht Runde für Runde im eigenen Stadion gegen Zweitligisten antreten dürfen. Das Endspiel gegen die Bayern, sagt Daniel Somfleth und seufzt, sei „die Belohnung für eine Leistung, die nicht stattgefunden hat. Das ist total unverdient.“

Mit dem Fahrrad ist Somfleth, den im Rössle alle nur Somfi nennen, nach Feierabend vom Hackeschen Markt durch den strömenden Regen nach Neukölln gefahren, um Bierkisten zu schleppen und Sofas zu verschieben. Natürlich, auch er freut sich auf das große Spiel und den zu erwartenden Umsatz, der den Fortbestand des ehrenamtlich betriebenen Vereinsheims sichern soll. Aber in die Vorfreude mischt sich die Vorahnung, dass die Zeiten womöglich auch danach nicht besser werden. „Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir das Finale gar nicht erreicht hätten“, sagt der 29 Jahre alte Herrenberger, „dann hätte es wenigstens personelle Konsequenzen auf der Trainerbank gegeben.“

Bruno Labbadia ist seit inzwischen zweieinhalb Jahren Trainer des VfB, er hat den Verein vor dem Abstieg bewahrt, zweimal in die Europa League und jetzt ins Pokalfinale nach Berlin geführt. Viele Interviews hat er in den vergangenen Tagen gegeben. Er saß sogar bei Barbara Schöneberger in der Talkshow des NDR, um dazu beizutragen, die Vorfreude aufs Pokalfinale zu schüren. Die Herzen der Fans hat er trotz allem bis heute nicht erobert. „Labbadia mag ein guter Fußballtrainer sein“, sagt Daniel Somfleth, „aber er passt nicht zum VfB.“ Er sehe kein Konzept und höre nur, dass der Trainer dauernd jammert. „Wir alle können in diesem Spiel Helden werden“, hat der VfB-Manager Fredi Bobic Anfang der Woche gesagt. Ob das auch für Bruno Labbadia gilt, da sind sie sich im Rössle nicht so sicher.

Sie werden trotzdem eine große Party feiern, ganz egal wie das Spiel ausgeht. Beim Ordnungsamt haben sie erfolgreich Parkverbotsschilder für die Straße beantragt, damit draußen keine Autos den Platz versperren können. Martin Harnik hat damals bei der Weihnachtsfeier versprochen, im Falle eines Siegs mit sämtlichen Mitspielern im Rössle vorbeizuschauen und den Pokal zu präsentieren. Sie haben ihn in den vergangenen Wochen noch einmal darin erinnert, aber keine Antwort bekommen. Vermutlich würde die VfB-Mannschaft in Berlin bessere Adressen als Neukölln finden, um einen solchen Triumph zu feiern. Und falls nicht: genügend Getränke müsste es im Rössle geben.