Beim VfB Stuttgart löst das Debakel von Dresden wieder einmal die Diskussion über fehlende Führungsspieler aus. Auch die Mentalitätsfrage wird gestellt. Doch wer geht jetzt beim nächsten Spiel am Freitag gegen 1860 München voran?

Sport: Carlos Ubina (cu)

Stuttgart - Michael Ballack hat sie einfach gehabt. Stefan Effenberg natürlich auch. Und klar, Mark van Bommel. Sie alle hatten diese ominöse Präsenz auf dem Fußballplatz, die immer dann gefragt ist, wenn der Karren im Dreck steckt und einer her muss, der vorangeht und kräftig zieht. Dabei ist es sicher kein Zufall, dass die drei oben genannten Ex-Profis lange beim FC Bayern ihre sogenannten Zeichen gesetzt haben. Denn München ist ja über Jahrzehnte das edelste und größte Revier für unumstrittene Leitwölfe gewesen.

 

Streng genommen bedeutet Präsenz aber nichts anderes als Anwesenheit. Und auf jeden Fall war Christian Gentner am Samstag in Dresden anwesend. Dafür gibt es Zeugen. Der Mittelfeldspieler war sogar einen Tick besser als viele seiner Mannschaftskollegen beim VfB Stuttgart. Nur: Er hat eben keinen Gegenspieler über die Seitenauslinie getreten und keinen Mitspieler angeraunzt, als sich das 0:5 anbahnte. Gentner ist Gentner geblieben und hat sein Spiel einfach weiter gespielt – was womöglich eines der Probleme beim Zweitligisten war.

Gentner stellt sich der Kritik

Der Kapitän ging mit unter. Nach dem Abpfiff ist der 31-Jährige aber gleich wieder aufgetaucht und hat sich der Kritik gestellt. Wie er es immer tut. Sachlich, richtig, klar. Aber eben nicht laut und provokant. Gentner versteht seinen Job als Führungskraft anders. Er moderiert und kennt gerade deshalb die Debatten, die solche sportlichen Debakel wie in Sachsen auslösen, nur zu gut. Oft genug ranken sie sich ja um ihn. Die echten Kerle werden dann vermisst und die richtigen Typen gefordert. „Es ist aber der falsche Zeitpunkt, um diese Typendiskussion zu führen“, sagt Gentner kurz nach dem Spiel.

Zu schwach fand er die Vorstellung im Kollektiv, um gleich darüber zu sinnieren, warum der VfB nur noch über eine Elf ohne Profil verfügt. Zudem ist es ja auch eine ziemlich alte und ziemlich deutsche Diskussion – dieses ganze Gerede um Alphatiere. In Spanien oder Italien würde doch auch niemand auf die Idee kommen, aktuell Andrés Iniesta oder früher Andrea Pirlo nicht als Führungsspieler zu bezeichnen, nur weil sie wenig oder leise reden. Sie lassen eben ihre Füße sprechen.

Zugegebenermaßen sind das Spieler der Güteklasse A, beim VfB ist bestenfalls noch die Kategorie darunter vertreten. Und bei Dynamo gibt es gar nur einen Marco Hartmann oder Andreas Lambertz. Beide Mittelfeldspieler erfüllten mit ihren begrenzten fußballerischen Mitteln jedoch ihre Funktion. Sie hielten die Mannschaft und das Spiel der Dresdner zusammen.

Beim VfB hielt niemand nichts zusammen, als das Unheil in den Minuten vor der Pause seinen Lauf nahm. Kein Gentner, kein Klein, kein Maxim, kein Großkreutz, kein Insúa. Allesamt Spieler mit Erfahrung. Allesamt Spieler, die den Anspruch erheben, Einfluss auf das Spiel zu nehmen.

„Zu einem Führungsspieler wird man aber nicht erklärt“, sagt der Manager Jan Schindelmeiser, „da spielen viele Faktoren eine Rolle, zum Beispiel, ob man gewillt ist, in kritischen Phasen das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen.“ Im DDV-Stadion gab es jedoch nichts als Passivität – gerade bei den Routiniers.

Großkreutz ist vor allem mit sich beschäftigt

Dennoch wird beim VfB niemand die Autorität eines Christian Gentners oder die Einsatzbereitschaft eines Kevin Großkreutz’ anzweifeln. Schon sein einstiger Trainer Jürgen Klopp hat Großkreutz in Dortmund als „Mentalitätsmonster“ bezeichnet, weil der Allrounder seine bedingungslose Bereitschaft zum Sieg beim BVB total auslebte. Aus diesem Grund hat ihn der damalige VfB-Manager Robin Dutt auch nach Stuttgart geholt. Großkreutz sollte seine Leidenschaft übertragen.

Geklappt hat das nur in den Anfangswochen, als es noch gut lief und Großkreutz verletzungsfrei blieb. Doch wenn es um die Statik und Stabilität des Teams geht, dann scheinen das Monster und die anderen Leitwölfe schon länger gezähmt. Weil sich Führung nicht nur auf einer hierarchischen oder emotionalen Ebene abspielt, sondern ebenso auf einer sportlichen. Zunächst und in erster Linie muss die Leistung stimmen.

Vor der nächsten Partie am Freitag gegen den TSV 1860 München wird also eine der spannenden Fragen sein, durch wen sich der VfB nach dem Rückschlag wieder aufrichtet. „Wir dürfen uns von dieser bisherigen Achterbahnfahrt der Gefühle nicht mitreißen lassen, sondern müssen dem Ganzen als Gruppe entgegentreten“, sagt Gentner – und spricht damit seinem neuen Trainer wohl aus der Seele. Denn Präsenz hier, Persönlichkeit dort – „bei uns stehen alle in der Verantwortung, nicht nur die älteren Spieler“, sagt der Coach Hannes Wolf. Doch diese beim nächsten Stresstest ganz besonders.