Aus Endzeitstimmung ist fast Aufbruchstimmung geworden: Die Angst vor dem Abstieg hat den VfB Stuttgart und die Stadt auf gewisse Art zusammengeschweißt. Eindrücke vor dem Heimspiel gegen den Hamburger SV.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Im Grunde ist das mit Stuttgart 21 und dem VfB ganz einfach. Zumindest, wenn man wie der vielleicht 30-jährige Mann mit Hipster-Vollbart und kurzer khakifarbener Hose mit seinem Steppke gegenüber dem Hauptbahnhof vor dem Pavillon der S-21-Gegner steht und der Sohnemann wissen will, was das hier eigentlich alles so soll. „Die wollen dasselbe wie du mit dem VfB“, sagt der Papa grinsend und zeigt auf einen der Aufkleber an dem Stand. Die beiden emotionalsten Themen der Stadt teilen ein gemeinsames Ziel, auch wenn es hier (S 21) eher spaltet, dort eher eint (VfB).

 

Oben bleiben.

Es ist die Woche vor dem Spiel der Spiele in Stuttgart. An diesem Samstag geht es gegen den Hamburger SV. Urgestein trifft Urgestein. Und vielleicht steigt einer dieser beiden Traditionsvereine am Saisonende ab. Vielleicht keiner. Vielleicht beide.

Es gibt natürlich Menschen, denen es völlig egal ist, ob der VfB tiefergelegt wird, aber es soll ja auch Menschen geben, denen egal ist, was am Bahnhof passiert. Wenn es allerdings um den Club aus Cannstatt geht, dürften die Stadt und die Region in überwältigender Mehrheit hinter dem Ziel stehen. Oben bleiben! Der Abstiegskampf hat etwas Bemerkenswertes kreiert. Im Verlauf der vergangenen Jahre haben immer mehr Stuttgarter den VfB zunehmend emotionslos verfolgt, manche haben dem Club sogar den Abstieg gewünscht, um dort zu Sinnen zu kommen. Die akute Angst vor dem Abstieg hat Verein und Stadt in dieser finalen Phase zusammengeschweißt, zumindest empfinden das viele Menschen so: „So etwas habe ich in Stuttgart noch nie erlebt“, sagt etwa ein Mann mittleren Alters, der im VfB-Trikot vor der Dönerbude Ützel Brützel in der Königstraße steht. „Alle leiden mit und drücken dem VfB Daumen.“

So Stadtgespräch wie in diesen Tagen war der VfB selten

Um die 30 Grad hat es an diesem Dienstagnachmittag in der Sonne, eine schwüle Hitze hat sich über den Kessel gelegt. Während bei Karstadt Sport die Wiesn-Kollektion des FC Bayern München verramscht wird (50 Prozent Rabatt), platzen die Biergärten in der Innenstadt aus allen Nähten. Wenn man durch die Stadt streunt, trägt der Wind immer wieder Gesprächsfetzen von den Tischen vor Carls Brauhaus am Schlossplatz und an all den anderen Lokalitäten mit den begehrten Plätzen im Freien herüber. Und immer wieder fällt dabei die Abkürzung „VfB“.

Es ist nicht so, dass es kein anderes Thema in der Stadt gäbe, aber so im Gespräch wie in diesen Tagen war der Verein selten. Und es ist auch nicht so, dass sich der VfB-Fan 24 Stunden am Tag Sorgen um seinen Club macht. Die meiste Zeit hat er Besseres zu tun. Schaffen, zum Beispiel. Auch wenn man sich an schönen Tagen fragt, wer in Stuttgart eigentlich noch schafft, so voll ist es in der Innenstadt. Alex und sein Kumpel Jörg sind auch da, sie haben Urlaub, Zeit also, um bei einem Radler vor dem Palast der Republik die Sonne zu genießen und die Lage des VfB zu erörtern. „Es wäre fürchterlich, wenn der VfB absteigt“, sagt Alex. „Das darf nicht passieren“, sagt Jörg. „Und das wird auch nicht passieren!“

Der Sieg gegen Mainz – ein Stadion im Rauschzustand

Robin Dutt sitzt in Raum 2007 in der VfB-Geschäftsstelle. Es ist Dienstagvormittag, Zeit für die allwöchentliche Runde mit dem Sportvorstand. Es gibt Butterbrezeln und Kaffee. Dutt navigiert seit Januar den havarierten Tanker nach außen ruhig und sachlich in guten wie in schlechten Zeiten – auch wenn die Zeiten hier in Stuttgart, ganz nüchtern betrachtet, seit Winter nie wirklich gut waren. Aber nach dem Sieg gegen Mainz ist die Zeit gerade zumindest atmosphärisch gesehen ganz gut. Wenn man Robin Dutt fragt, wie er die Stimmung in der Stadt wahrnimmt, erzählt er zum Beispiel, wie an diesem Morgen auf dem Weg zur Arbeit an einer roten Ampel neben ihm jemand das Fenster runtergefahren und ihm zugerufen hat: „Wir glauben daran. Weiter so!“

Nur wenige Tage ist es her, dass alles vorbei schien, es zwar rechnerisch Hoffnung gab, aber vielen der Glauben fehlte. Nun registriert Dutt wie viele andere auch eine sehr „positive Stimmung“ beim Tabellenletzten. Viele Zuschauer haben am Samstagabend nach dem 2:0 gegen Mainz gar in einer Art Rauschzustand das Stadion verlassen. In der U 11 auf dem Nachhauseweg stimmten einige Burschen glückselig „So sehen Sieger aus“ an. Es klingt seltsam, als würde auf der Titanic mit Blick auf den Eisberg die Navigationskunst des Kapitäns gelobt, schließlich ist die Lage unverändert dramatisch. Der VfB ist seit dem 20. Spieltag mit kurzer Unterbrechung Letzter.

Die Frage: Schaff’ mer des? Die Antwort: Mir schaffen des!

Es ist schwer in Worte zu fassen, was passiert ist, aber das Momentum, dieses so schwer zu definierende Gefühl im Sport, scheint auf Seiten des VfB. Binnen dieser 90 Minuten ist aus der Endzeitstimmung fast schon Aufbruchstimmung geworden.

Schaff’ mer des? Mir schaffen des!

Das ist die Überzeugung, die unter den VfB-Anhängern bei aller Sorge zurück ist. Robin Dutt hat das Gefühl, dass die Stimmung in der Stadt von einem Extrem ins andere gewechselt ist, nämlich zu einer, nun ja, fast schon gewissen Euphorie, die nun auch nicht angebracht ist, schließlich ist der Abgrund noch immer nah. Auswärtige Journalisten sprechen dieser Tage irritiert vom bestgelaunten Schlusslicht aller Zeiten. Optimismus in allen Ehren, aber: man habe keine Lust, „gut gelaunt abzusteigen“. Es gebe keinen Grund abzuheben. „Dafür genügt ein Blick auf die Tabelle.“

Fußball in Stuttgart ist nichts Existenzielles. Er ist nichts Semireligiöses, zumindest nicht in einer Dimension, wie er wohl im Ruhrpott noch gelebt wird. Stuttgart definiert sich nicht über den Fußball. Auf seltsame Art scheint die Stadt eine emotionale Distanz zu ihrem Verein zu haben und der Verein zu seiner Stadt. In diesen Tagen nicht. Vielleicht, weil viele erkannt haben, dass es nicht gottgegeben ist, dass der VfB in der ersten Liga spielt und es gut möglich ist, dass die Stadt bald keinen Fußball-Bundesligisten mehr hat. Vielleicht erkennt mancher erst kurz vor dem drohenden Verlust dieses Aushängeschilds, welche Bedeutung der Club hat. „Stuttgart ist eine Stadt des Fußballs“, sagte OB Fritz Kuhn, ein bekennender Anhänger des FC Bayern München, dem SWR.

Zwischen Fans und Team passt kein Blatt Papier

Vom Umlauf ganz oben auf der Gegentribüne der Mercedes-Benz-Arena hat man einen fantastischen Blick auf die Weinberge. Und wer wissen will, wie beliebt der VfB ist, erhielt am vergangenen Samstag hier oben nicht nur eine kostenlose Lektion über schwäbischen Geschäftssinn, sondern erfuhr auch noch, wie populär der VfB ist: Ein älterer Herr stopfte 30 Stadionhefte in seinen Rucksack, um sie später auf Ebay zu verkaufen. „Der VfB hat Fans auf der ganzen Welt, die die Dinger gerne kaufen“, sagte er. Ein Euro pro Heft bringt das Exportgeschäft von „Stadion aktuell“ im Schnitt. Ob die zweite Liga da geschäftsschädigend ist? „Ach, das Leben geht auch dann weiter, die bleiben auch in der zweiten Liga Fans“, sagte er: „Das gehört halt zum Fußball.“ Pause. „Leider.“

Der Schwabe gilt als Bruddler. Und wer einem Auswärtigen erklären wollte, was er darunter zu verstehen hat, schickte ihn früher am besten in die Mercedes-Benz-Arena. Das Gezeter ist das Hintergrundrauschen missglückter Aktionen. Manche sagen auch, die Cannstatter Kurve sei eine Protestkurve. Die Samstagsdemonstration der Stuttgarter Wutfans. Regelmäßig haben die Fans dort auf Transparenten die Vereinsführung kritisiert, auch am Samstag gegen Mainz, um danach voller Leidenschaft die Mannschaft nach vorne zu treiben. Die Kurve trennt fein zwischen denen, die Verantwortung auf dem Rasen tragen, und denen, die sie neben dem Rasen tragen. Es passt in dieser entscheidenden Phase der Saison kein Blatt Papier zwischen Team und Fans. Zwischen viele Anhänger und die Vereinsspitze passt ein ganzer Wald.

Die Anhänger widerlegen alle Stereotypen

Bilder, wie VfB-Fans nach dem 2:3 gegen Borussia Dortmund das Eigengewächs Timo Baumgartl trösten, gingen um die Welt. Rund um den Globus zollten Fußballfans den Stuttgarter Anhängern ihren Respekt. Es liegt auch an dieser Mannschaft. Der VfB hat seine Fans in der Mercedesstraße phasenweise gequält wie eine Domina in einem Sadomaso-Studio ihre Kunden, aber die Truppe hat sich nie aufgegeben. Sie wirkte oftmals hilflos, aber nie lustlos, immer engagiert. Sie hat sich nie abschlachten lassen wie etwa die Spieler des HSV in manchen Partien. Die Fans haben feine Sensoren für diese Schwingungen, und das hat wohl verhindert, dass der Club diese Saison auseinandergebrochen und auf allen Ebenen im Chaos versunken ist.

An den Fans liegt es nicht, wenn es nicht klappen sollte. Sie widerlegen alle Stereotypen. Sie sind euphorisch im Erfolgsfall wie einst, als 200 000 Menschen im Mai 2007 in der Innenstadt den Titel feierten, und nun, da es um alles geht, stehen sie bedingungslos hinter ihrem VfB. Am Samstag gegen Mainz haben sie beim Tor zum 2:0 einen Lautstärkenrekord aufgestellt: 114,5 Dezibel. Eine Explosion. Der Druck im Kessel entwich wie nie zuvor. Ein Lärm wie beim Start eines Eurofighters. In der ganzen Liga wurde diese Saison vom Sender Sky kein höherer Wert gemessen.

Steigt der VfB ab, steigt Stuttgart ab

Was ein Abstieg für eine Stadt wie Stuttgart bedeutet, ist schwer in Zahlen zu fassen. Er hätte natürlich Folgen, die in Euro auszudrücken sind: In der zweiten Liga würden weniger Fans der Gästevereine anreisen, Hotels und Gastronomie würden darunter leiden, aber nicht im Übermaß, rein ökonomisch gesehen würde sich der Schaden in Grenzen halten. Der Neckar würde weiterfließen, vorm Ützel Brützel würde es weiter lange Schlangen geben, und Daimler und Porsche würden weiter die besten Autos der Welt bauen.

Aber der VfB ist ein Imageträger für die Region, sein Werbewert wird auf etwa 50 Millionen Euro taxiert, und in der zweiten Liga wäre die Strahlkraft übersichtlich, wenn es statt gegen die Bayern gegen 1860 geht. Der VfB ist ein „soft skill“, wie man neudeutsch gerne sagt: ein weicher Standortfaktor. Im Kampf um die klügsten Köpfe, die diese Region mit all ihren großen und kleinen Unternehmen benötigt, ist ein Bundesligist natürlich nicht der entscheidende Faktor für die Attraktivität, aber als Teil eines Gesamtpakets schadet er auch nicht gerade. Im Gegenteil. Wenn es heißen würde „Wir können alles – außer Fußball“, dann wäre das aber natürlich auch ein Rückschlag für den schwäbischen Stolz. Steigt der VfB ab, steigt Stuttgart ab.

Diese Region, die in der Champions League der Wirtschaft spielt und für die in aller Bescheidenheit nur das Beste gut genug ist, wäre im Falle des Abstiegs nicht mehr Teil des größten Spielbetriebes dieses Landes, dieser unerschöpflichen Quelle an Gesprächsthemen für Kantinen, Kneipen und den Arbeitsplatz. Nicht mehr auf Augenhöhe mit München, Berlin, Köln und vielleicht Hamburg. Wenn Deutschland montags über die Bundesliga diskutiert, sucht Stuttgart den Weg nach Aue. So wäre das vielleicht. Robin Dutt sagt: „Stuttgart würde ein Stück Lebensqualität verlieren.“