20 Treffer in drei Spielen: das ist die aktuelle VfB-Bilanz.Was die Mannschaft dabei zeitweise nach vorne bringt, sieht auch immer mehr nach Veh-Fußball aus – leidenschaftlich, offensiv, überraschend. Doch bei diesem Achterbahnfußball droht auch immer der Absturz.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Stuttgart - Armin Veh hat immer wieder flehentlich die Arme gehoben. Er wandte sich dabei an seine Spieler, die gerade den Ball verteidigten. Der Trainer drehte sich zur VfB-Bank, wo sie ebenfalls den Schlusspfiff herbeisehnten. Und er forderte die Unparteiischen mehrfach auf, diesem irren Spiel ein Ende zu setzen. Der vierte Schiedsrichter Peter Sippel und vor allem dessen Chef Christian Dingert sollten ihn endlich von der Angst befreien, dass eine letzte Flanke in den Stuttgarter Strafraum segelt und Kopfballungeheuer wie Alexander Madlung oder Alex Meier die Kugel doch noch einmal im VfB-Tor unterbringen – und für eine enttäuschende Schlusspointe sorgen könnten.

 

Fünf Minuten wurden offiziell nachgespielt in Frankfurt – und nicht nur für Veh schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis der Abpfiff ertönte und der VfB-Coach erleichtert zum Jubeln in die Knie gehen konnte. „Ein Wahnsinnsspiel“, sagte er hinterher. Und das W-Wort war in den verschiedensten Kombinationen die meistgebrauchte Vokabel, um zu beschreiben, was sich zwischen dem VfB und der Eintracht an diesem Nachmittag abgespielt hatte.

Am Ende stand ein kaum fassbares 5:4, das der Stuttgarter Kapitän Christian Gentner mit seinem zweiten Tor (84.) herausgeschossen hatte. Doch bis es so weit war, gab es nicht nur neun Treffer und 40 Torschüsse, sondern vor allem zig Wendungen: 0:1 lag der VfB trotz gutem Beginn zurück, dann führte er verdient 3:1, gab den sicher geglaubten Sieg innerhalb weniger Minuten bis zum 3:4 vermeintlich wieder ab – und rappelte sich mit toller Moral noch einmal zum fulminanten Schlussspurt auf.

Zwei Spektakel innerhalb einer Woche

Die Stuttgarter boten so innerhalb einer Woche zwei Fußballspektakel: erst das 3:3 gegen Bayer Leverkusen nach einem 0:3-Rückstand, jetzt das 5:4 in Frankfurt. Nimmt man das 2:3 zuvor in Berlin dazu, dann scheint sich der VfB dadurch in Fußballdeutschland in Erinnerung zu rufen, dass er in der Bundesliga für die Tage der offenen Tore zuständig ist.

Auf 20 Treffer in drei Spielen summieren sich die letzten schwäbischen Verrücktheiten. Und was die Veh-Elf dabei zeitweise nach vorne bringt, sieht auch immer mehr nach Veh-Fußball aus. Leidenschaftlich soll dieser sein, offensiv ausgerichtet, und die Zuschauer soll er auch überraschen. So wie der Trainer selbst mit seiner Aufstellung überrascht hatte. Denn Sercan Sararer stand nach seiner Degradierung in die zweite Mannschaft plötzlich in der Erstliga-Startelf – und überzeugte.

Wie auch der gesamte VfB die Gastgeber fußballerisch dominierte. Mit gutem Passspiel, schnellen Aktionen und schön herausgespielten Toren. Mit einem Filip Kostic, der selbst als seine Sporthose einem Reißtest unterzogen wurde, kaum zu halten war, einem Doppeltorschützen Martin Harnik im Sturmzentrum als Ersatz für den verletzten Vedad Ibisevic, und einem Einwechselspieler Timo Werner, der bei seinem Sololauf zum 4:4 so unwiderstehlich und unbeschwert wirkte wie seit fast einem Jahr nicht mehr.

„Ich habe diesmal keinen Bock, über die Fehler zu sprechen.“

Am 10. November 2013 war es gewesen, als der VfB sein zuvor letztes Ligaauswärtsspiel gewonnen hatte – dank zweier Werner-Tore. Zwei Trainer und viele Enttäuschungen später sieht Veh nun zumindest ein Problem behoben. „Ich habe bisher immer gesagt, dass wir vorne zu ungefährlich sind. Dieses Problem haben wir jetzt abgestellt“, sagte der Trainer und verspürte wenig Lust, sich der Partie von der anderen Seite her zu nähern: „Ich habe diesmal keinen Bock, über die Fehler zu sprechen.“

Doch Veh wird nicht umhin kommen, bis zum Heimspiel am Samstag gegen den VfL Wolfsburg die Mängelliste anzusprechen und auch ein Stück weit abzuarbeiten. Denn dieser Achterbahnfußball, den der VfB gerade vollführt, mag in all seinen Aufs und Abs spannend und mitreißend sein, sich ins Gedächtnis vieler Fans einbrennen, sich sogar für Jahresrückblicke und Geschichtsbücher anbieten – unbedingt zielführend ist er aber nicht. Dazu herrscht eine zu große und auch permanente Absturzgefahr.

„Wir müssen lernen, einen 3:1-Vorsprung über die Zeit zu bringen, auch wenn das Spiel dann langweilig wird“, sagt Gentner. Fast schon nachdenklich hat er es gesagt, weil die Stuttgarter Schwankungen dem Mittelfeldspieler immer etwas näher zu gehen scheinen als den Kollegen. Weil er auch schon beim legendären 4:4 in Dortmund im März 2012 als letzter Torschütze einer der Protagonisten war – und dieses Wechselspiel der Emotionen in Frankfurt die damalige Begegnung mit dem BVB noch überbot. Denn diesmal passten das Ergebnis und Erlebnis noch besser zusammen. „Wir können uns aber nicht darauf verlassen, dass wir solche Spiele immer noch herumreißen“, sagte Gentner, der sich kurz auch ausgemalt hatte, wie die Woche bei einer Niederlage ausgesehen hätte.

Start in eine entspannte Woche

Trüb und voller Fragen wäre sie wieder mal verlaufen. Auf der Gegenseite lieferte Thomas Schaaf einen Eindruck dieser Gefühlslage. „Wir alle wollen ja ein Spektakel. Aber ich mag kein Spektakel, wenn ich dabei verliere“, sagte der Eintracht-Trainer. Ohne ihn und seine Einstellung zum Fußball hätte es dieses turbulente Treiben aber wohl nicht gegeben. Schaaf hat schon zu Bremer Zeiten wild stürmen lassen, und beim VfB kann man sich kaum noch an einen Gegner erinnern, der so viele Räume zugestand und die Stuttgarter so offen spielen ließ.

Also begibt sich der VfB nach zwei trainingsfreien Tagen in eine entspanntere Woche. „Ich hoffe“, sagte der Sportdirektor Jochen Schneider, „dass wir mit diesem Resultat etwas mehr Ruhe hereinbekommen.“ Mit einem fast schon beseelten Lächeln im Gesicht begab er sich dann auf die Rückfahrt – und formulierte im Fahrstuhl zwischen Fußballhimmel und -hölle noch einen Wunsch: „Ein sicheres 2:0 wäre für die Nerven auch mal nicht schlecht.“