Es ist das Spiel der Spiele: Paderborn gegen Stuttgart – doch der VfB hat ungleich mehr zu verlieren. Ein Besuch in der 150.000-Einwohner-Stadt.

Paderborn - Der Kurort Bad Lippspringe am Südrand des Teutoburger Waldes ist ein guter Platz, um sich auf das nahende Ende vorzubereiten. Den Busladungen voller Senioren, die hier täglich ankommen, bietet sich ein beeindruckendes Angebot. Es gibt zwei Thermen und die Friedenskapelle im Kurwald, die Klinik Waldfrieden und die Salzgrotte Martinus; es gibt organisierte Spielenachmittage, Bingoabende, Lesestunden. Und mittendrin im Kaiser-Karls-Park mit seinem alten Baumbestand steht das Parkhotel mit holzgetäfelter Fassade. Hier verbringt passenderweise der Tross des VfB Stuttgart am Freitag seine womöglich vorerst letzte Nacht als Mitglied der Fußball-Bundesliga.

 

An diesem Samstag wird sich der Mannschaftsbus in Bad Lippspringe in Bewegung setzen und auf der Bundesstraße 1 zwölf Kilometer in südwestlicher Richtung nach Paderborn rollen, dem Ort der großen Entscheidung. Letzter Bundesligaspieltag, der VfB Stuttgart trifft auf den ortsansässigen Sportclub, es ist für beide Clubs das Spiel der Spiele. Ein Sieg bedeutet für Stuttgart die Rettung, für Paderborn womöglich zumindest die Relegation. Der Unterlegene steigt auf jeden Fall in die zweite Liga ab. Es geht um alles – vor allem für die Gästemannschaft aus dem Südwesten, die ungleich mehr zu verlieren hat als der Gastgeber aus Ostwestfalen.

Der „krasseste Außenseiter aller Zeiten“

Auf Augenhöhe begegnen sich nun zwei Fußballclubs, die eigentlich Welten trennen. Als der VfB vor ein paar Jahren noch in der Champions League spielte, stieg der SC Paderborn, nach mehreren Fusionen erst 1985 entstanden, in die dritte Liga ab. Völlig überraschend schaffte es der Club im vergangenen Jahr zum ersten Mal in die Bundesliga und ging dort als selbst ernannter „krassester Außenseiter aller Zeiten“ in diese Saison. Dass die Paderborner mit ihrer Mannschaft der Namenlosen jetzt noch die Möglichkeit haben, die Klasse zu halten, dass sie den großen VfB in die zweite Liga schicken können – das ist nicht weniger als eine Sensation.

Der SC Paderborn, dieser Verein im ostfälischen Niemandsland, „ein Club wie ein Feuerwehrfest“ („Spiegel“), hat eigentlich so gar nichts gemein mit dem Hochglanz- und Eventprodukt, das aus der Bundesliga geworden ist. Das gilt für den einzigen Trainingsplatz, der wie ein besserer Bolzplatz mitten in der Stadt neben dem örtlichen Hallenbad namens Schwimmoper liegt und mit Feuerwehrschläuchen bewässert werden muss. Und das gilt auch für das 15 000-Zuschauer-Stadion zwischen der Autobahn 44 und einem Möbelhaus, das die Leute Sardinenbüchse nennen, weil dort so viel Wellblech verbaut wurde.

Der Fanshop hat die Größe einer Umkleidekabine

Das VIP-Zelt neben dem Stadion erinnert an das Sommerfest eines Tennisvereins; der Fanshop unterhalb der Haupttribüne, in dem SCP-Fußabstreifer und Pilstulpen verkauft werden, besitzt die Größe einer Umkleidekabine. Wenn man zur Pressekonferenz will, muss man an der Tür klingeln – und wird herzlich begrüßt von Martin Hornberger, der den Kragen seines farbigen Hemdes über dem Sakko trägt und auf dessen Visitenkarte „Geschäftsführender Vizepräsident und Gesamtgeschäftsführer“ steht.

Die Welt würde nicht untergehen, wenn Paderborn wieder absteigt, sagt Hornberger, sein Verein habe schon jetzt Großes geleistet: „Früher mussten wir den Leuten immer erklären, wo Paderborn liegt.“ Irgendwo zwischen Dortmund, Hannover und Frankfurt, habe man dann gesagt, weil kein Paderborner freiwillig den Namen des ungeliebten Nachbarn Bielefeld in den Mund nehmen würde. „Dank des Fußballs“, sagt Hornberger, „kennt jetzt jeder unsere Stadt.“ Das Drei-Hasen-Fenster im Kreuzgang des Paderborner Doms ist nicht mehr das einzige Wahrzeichen der Stadt, mittlerweile ist der örtliche Fußballclub dazugekommen.

Zwei weitere Ziele hat der Verein ebenfalls schon jetzt erreicht. Zum Saisonende wird man die knapp fünf Millionen Euro Verbindlichkeiten abgebaut haben und erstmals schuldenfrei sein. Und vor zwei Wochen haben unweit des Stadions endlich die Erdarbeiten für das neue Trainingszentrum begonnen, das schon Ende des Jahres fertig werden soll.

Bleibt der Klassenverbleib als letztes Ziel. Klar, man würde gerne in der Bundesliga bleiben, sagt Hornberger, „aber wir müssen uns nicht schämen, wenn wir nächstes Jahr wieder in der besten zweiten Liga der Welt mitspielen würden“. Dieses Jahr in der Bundesliga sei zwar „hart erarbeitet“ gewesen, dennoch hätten sie es immer als „ein großes Geschenk“ begriffen.

Die Zugehörigkeit in der höchsten Spielklasse ist Pflicht

Das ist in Stuttgart anders. Für den VfB, den Traditionsclub aus dem Jahre 1893, ist die Zugehörigkeit in der höchsten deutschen Spielklasse kein Geschenk, sie ist eine Pflicht und eine Selbstverständlichkeit. Seit ihrer Gründung 1963 haben die Stuttgarter nur zwei Jahre verpasst; sie sind seit dem Wiederaufstieg 1977 dreimal Meister geworden und rangieren in der ewigen Bundesligatabelle auf Platz vier. Ein Abstieg, auch wenn er sich seit Jahren ankündigt, wäre eine mittlere Katastrophe, dessen Folgen niemand wirklich abzuschätzen vermag.

Rund 150 Leute beschäftigt der VfB auf seiner Geschäftsstelle, 32 sind es in Paderborn. Mehr als 40 Millionen Euro verdienen in Stuttgart die Spieler, in Ostwestfalen, wo ein Internetversand für Kfz-Ersatzteile der Hauptsponsor ist, werden 15 Millionen an die Profis verteilt. Wie in den vergangenen Jahren wird der VfB auch für 2014 ein dickes Minus ausweisen müssen – und käme in noch weitaus schwerere finanzielle Nöte, wenn das Spiel in Paderborn verloren geht. Dann wäre der VfB endgültig abgehängt von der deutschen Spitze, an der in der Boombranche Profifußball die Einnahmen immer kräftiger sprudeln.

Während in Paderborn, wie Martin Hornberger sagt, auch in der zweiten Liga alles so weiterlaufen würde wie bisher, müssten beim VfB die besten Spieler verkauft und Mitarbeiter entlassen werden. Vorbei wäre es auch mit der sportlichen Perspektive, die sich dank der erstarkten Offensive zuletzt erstmals seit langer Zeit wieder aufgetan hat. Manche mögen es nach den vielen Jahren der Führungskrisen und des Niedergangs als Chance betrachten, in der zweiten Liga neu aufzubauen. Doch steht außer Frage, dass ein Abstieg in die zweite Liga den VfB auf Jahre hinaus zurückwerfen würde.

Zwei Heimsiege gegen Mainz und Hamburg

Noch aber bleibt dieses eine Spiel in Paderborn, das vielleicht wichtigste in der Vereinsgeschichte, diese letzten 90 Minuten, in denen die Mannschaft den Absturz, der zwischendurch schon besiegelt schien, doch noch abwenden kann. „Alles was bisher war, zählt jetzt nicht mehr, jetzt haben wir es selbst in der Hand“, sagt der Stuttgarter Sportchef Robin Dutt, der trotz allem immer fest an eine Rettung geglaubt hat. Monatelang war der VfB Tabellenletzter, die Hoffnung schwand mit jedem weiteren verlorenen Spiel. Zuletzt aber gab es zwei stürmisch gefeierte Heimsiege gegen Mainz und Hamburg, die vieles um den Club herum verändert haben.

Aus der Untergangsstimmung ist eine regelrechte Nichtabstiegseuphorie geworden. Dass sich der Wind so schnell dreht, das gibt es nur im Fußball. In Stuttgart werden die Sky-Kneipen an diesem Samstag Rekordumsätze machen; eine Fankarawane, der auch Oberbürgermeister Fritz Kuhn und Günther Oettinger angehören, begibt sich auf den Weg nach Paderborn. Nur 1500 Tickets beträgt das Gästekontingent, es werden Hunderte, vielleicht Tausende von VfB-Anhängern ohne Eintrittskarte anreisen. „Dabei haben wir hier gar nicht so viele Kneipen“, sagt Martin Hornberger, der Paderborner Geschäftsführer, der im Internet dieser Tage Tickets entdeckt hat, die für bis zu 3000 Euro angeboten wurden.

Paderborn wird sich nicht widerstandslos ergeben

Es macht den Stuttgartern in dieser größtmöglichen Drucksituation Hoffnung, dass sie die besseren Spieler und die bessere Form haben, dass sie also gute Chancen besitzen, dieses Spiel zu gewinnen und in der Liga zu bleiben. Doch sie wissen auch, dass in so einem Finale nicht immer die bessere Mannschaft gewinnt, dass Kleinigkeiten entscheiden können, auf die man keinen Einfluss hat. Und sie müssen sich darauf einstellen, dass sich Paderborn nicht so widerstandslos ergeben wird wie zuletzt die Mainzer und der HSV. „Niemand hat daran geglaubt, dass wir am letzten Spieltag noch die Möglichkeit besitzen, in der Liga zu bleiben“, sagt der SC-Trainer André Breitenreiter. „Diese Möglichkeiten werden wir nutzen.“

51 Schornsteinfeger sollen im Stadion Glück bringen

Sie haben in Paderborn in den letzten Tagen und Wochen nichts unversucht gelassen, die Leute noch einmal zu mobilisieren. Unter dem Slogan „Lass mal erstklassig bleiben“ hat der Verein seine bislang größte Kampagne gestartet und Aufkleber, T-Shirts und Magnete verteilt, die man schon am Eiffelturm in Paris hat hängen sehen. Hoch über der Westernstraße wiederum, der Fußgängerzone der 150 000-Einwohner-Stadt, wehen Dutzende blau-weiße Fahnen des SCP im Wind. Auch das recht einfallslose Vereinslogo flattert aus den Rathausfenstern am Marienplatz, verbunden mit einem weiteren neuen Motto: „Paderborn ist erstklassig.“

„Die Stadt ist stolz auf unseren Verein. Wir erleben in diesen Tagen einen richtigen Hype“, sagt Martin Hornberger und scheint sich selbst ein bisschen zu wundern, weil der Ostwestfale ansonsten nicht zum Überschwang neigt. Sogar an die nötigen Glücksbringer hat der Verein gedacht und zum Showdown gegen Stuttgart 51 Schornsteinfeger aus dem ganzen Landkreis eingeladen. Und schon vor dem Anpfiff wird sich der Medienpartner Radio Hochstift als Anheizer betätigen und unter dem stürmischen Beifall der Fans den Mannschaftskapitän Uwe Hünemeier als Spieler der Saison auszeichnen – ausgerechnet jenen Mann also, der am vergangenen Samstag mit einem Eigentor die 0:1-Niederlage auf Schalke verschuldet hat.

Nur im Seniorenkurort Bad Lippspringe draußen vor den Toren der Stadt ist der Fußball kein Thema. Wahrscheinlich werden es die meisten Gäste an diesem Samstag gegen 17.20 Uhr gar nicht mitbekommen, ob der SC Paderborn abgestiegen ist oder der VfB Stuttgart. Hier gibt es Wichtigeres zu tun. Im Kaiser-Karls-Park lädt der Alleinunterhalter Ferenc „Pepe“ Pinter zum allseits beliebten Tanztee.