Beim Sieg gegen den HSV zeigen die Stuttgarter ihre beste Saisonleistung, was für das Spiel in Paderborn optimistisch stimmt. Huub Stevens lässt jetzt sogar nach vorne spielen.

Stuttgart – Es grüßt ein Meisterspieler von 2007. Auf der Videotafel erscheint Thomas Hitzsperger. „Hallo Fans“, ruft er, „ihr seid die Besten in der ganzen Liga!“ Dann beginnt die Partie, die der VfB gegen den Hamburger SV mit 2:1 gewinnt. Der Klassenverbleib ist jetzt aus eigener Kraft zu erreichen. Daran haben die von Hitzlsperger so gelobten Fans ihren Anteil – im Zusammenwirken mit anderen Gründen.

 

Nachspielzeit. Noch vier Minuten. Für die VfB-Fans, die nur noch den Abpfiff herbeisehnen, ist das eine Ewigkeit. Eine Zeit, die nicht verstreichen will, weil alle wissen, wie immens wichtig dieser Sieg gegen den HSV ist. Und weil alle schon zu oft miterlebt haben, wie die VfB-Elf einen Vorsprung in den letzten Minuten verspielt hat. Also entscheiden sich Filip Kostic und Alexandru Maxim dafür, dass Fußballspielen einzustellen. An der linken Eckfahne verschanzen sie sich mit dem Ball, provozieren Fouls, holen Eckbälle heraus – und lassen so die Sekunden im Stuttgarter Stadion herunterticken.

Es ist das untypische Ende einer nervenaufreibenden Begegnung zweier Abstiegskandidaten, denn zuvor hat nur eine Mannschaft Fußball gespielt: der VfB. Womit das Team von Trainer Huub Stevens die gängige These, dass der Abstiegskampf der natürliche Feind des gepflegten Spielstils ist, eindrucksvoll widerlegt hat. Die Stuttgarter versuchen sich nicht nur aus dem Tabellenkeller herauszukämpfen, sondern sie kombinieren sich heraus. Tempo- und durchaus variantenreich.

Der VfB spielt jetzt auch nach vorne

„Uns bleibt nichts anderes übrig“, sagt Stevens, „wir müssen nach vorne spielen.“ Eine Notwendigkeit, die einerseits dem Punktestand geschuldet ist. Andererseits hat der Trainer erkannt, dass diese Mannschaft zwar hinten mehr Halt benötigt, aber ebenso vorne Automatismen. Mit dem starken Serey Dié im defensiven Mittelfeld sowie dem Offensivquartett Harnik-Didavi-Kostic-Ginczek hat Stevens die Balance zwischen Abwehr und Angriff stabilisiert. Dennoch war auch die Entwicklung der neuen Spielstärke eine Frage der Zeit – und noch besteht die Gefahr, dass der VfB seine Form und Formation zu spät gefunden hat.

Huub Stevens strotzt vor mentaler Stärke und Energie. Das spüren alle im VfB-Lager. Gleich nach dem Schlusspfiff hat er die Spieler wieder auf dem Platz zusammengeholt. An den Schultern haben sie sich gefasst, und der Trainer schwor das Team leidenschaftlich auf das Finale beim SC Paderborn ein. Einmal noch, dann könnte das große Ziel Klassenverbleib erreicht sein, dann könnte der niederländische Fußballlehrer seine Erfolgsprämie von einer Million Euro einstreichen und sich zufrieden auf den Weg nach Mallorca machen. „Dorthin gehe ich nach der Saison“, sagt Stevens. Und dorthin lädt der 61-Jährige gut gelaunt alle Journalisten ein, die wissen wollen, wie es sportlich bei ihm weitergeht. „Da gibt es dann auch Kaffee, Wein oder Bier.“

Bis es so weit ist – denn auch die Relegation droht noch – hält sich Stevens bedeckt, macht er sich sogar einen Spaß daraus, die Öffentlichkeit über seine weiteren Pläne im Unklaren zu lassen. Alles wird seiner zweiten Rettungsmission in Stuttgart untergeordnet. Wie in der Vorsaison, als er nach seinem Griechenland-Abenteuer rastlos an den Neckar kam. Allerdings mit dem Unterschied, dass sich der Coach vor einem Jahr müde fühlte, als er den ebenso erschöpften VfB ans rettende Ufer geschleppt hatte. „Da brauchte ich eine Pause, jetzt nicht“, sagt Stevens und schlägt zur Verdeutlichung mit der rechten Faust in seine flache linke Hand. Er ist kampfbereit – und angriffslustig. Was seine Spieler zu spüren bekommen, die er als „Affen“ beschimpft hat, und auch die Medien, die daraus seiner Ansicht nach ein Affentheater gemacht haben. „Da kann ich nur lachen. Im Niederländischen ist das ein harmloser Ausdruck“, sagt Stevens, der darauf vertrauen kann, dass ihm die Mannschaft weiter folgt. „Vielleicht war das ein wichtiger Warnschuss“, sagt der Innenverteidiger Timo Baumgartl. Und man darf gespannt sein, was sich der Trainer in dieser Woche einfallen lässt, um seine Mannschaft weiter unter Hochspannung zu halten.

Bevor Spieler und Offizielle nach dem Schlusspfiff für Interviews bereit sind, sagt ein Reporter, dass er für seinen Bericht jetzt vermutlich getrost gleich die alten Zitate aus den vergangenen Wochen verwenden könnte – und tatsächlich sagen an diesem Samstag alle wieder dasselbe. „Wir schauen nicht auf andere, sondern nur auf uns“, lautet diese VfB-Kernbotschaft. Bei einer Niederlage gegen den HSV hätte das zwar nicht mehr gepasst, weil das Team dann definitiv abgestiegen gewesen wäre, aber so kann nach den Toren von Christian Gentner und Martin Harnik das Motto als Einstimmung auf die nächste entscheidende Partie in Paderborn ein letztes Mal in dieser Saison funktionieren. Das ist jetzt nur ein Beispiel, doch es zeigt, dass sich das Team auf eine Linie festgelegt hat – was in Worten und Taten zum Ausdruck kommt.

Die Fans üben weiter den Schulterschluss

An dieser Stelle sind die Fans mit im Boot, die den Schulterschluss schon vollzogen haben, als die Profis am Anfang der Rückrunde noch reichlich desorientiert wirkten. Vielleicht ereignete sich die Schlüsselszene auf dem Weg zu einem neuen Geist beim VfB nach dem 2:3 am 20. Februar gegen Dortmund. Da trösteten die Anhänger noch im Stadion den niedergeschlagenen Timo Baumgartl – ein Bild, das die Runde machte und ein Wir-Gefühl vermittelte, das offensichtlich sogar die überzähligen und nicht mehr zum Kader zählenden Spieler erfasste, die ihren Unmut zumindest öffentlich nicht äußern. Frustrierend muss die Ausmusterung speziell für Vedad Ibisevic sein, doch die persönlichen Befindlichkeiten wurden dem inneren Zusammenhalt untergeordnet. „Die Mannschaft hat einen guten Charakter“, sagt der Kapitän Christian Gentner.

Womöglich klingt es absurd, aber als der Druck auf die Spieler im Februar und März immer größer wurde, ist viel Ballast von ihnen abgefallen. Das geschieht ja öfter mal im Sport. Schließlich gibt es da nicht von ungefähr das geflügelte Wort, wonach ein angeschlagener Boxer am gefährlichsten ist. „Wir hatten doch nichts mehr zu verlieren, weil wir schon abgeschrieben waren“, sagt Gentner, der den Umschwung unter anderem damit begründet, „dass wir uns irgendwann mit dem Mute der Verzweiflung gegen den Abstieg gestemmt haben.“ Dabei hat auch der Manager Robin Dutt eingegriffen. Seine Gedanken und Ansagen an das Team drehten sich immer nur um das nächste Spiel und nie darum, was eventuell am Ende der Runde herauskommen könnte. So wurde der Druck kanalisiert, in die richtigen Bahnen gelenkt und in positive Energien umgewandelt. Auch dieser Prozess verlief wie bei der Entstehung der Geschlossenheit im Doppelpass mit den Fans, die den Spielern in ganz kritischen Momenten stets Mut zugesprochen haben – ihr Anteil an der Druckbewältigung.

Dadurch entwickelte sich diese Eigendynamik, die einen angeschlagenen Boxer so gefährlich macht. Das Motto: mit dem Rücken zur Wand sind wir am stärksten. „An dieser Situation ist die ganze Mannschaft gewachsen, das hat man gemerkt“, sagt Baumgartl. Nun kommt es nach dem vom VfB so bezeichneten Viertelfinale gegen Mainz und dem Halbfinale gegen den HSV zum erhofften Endspiel in Paderborn. Bei einem Sieg ist der Club auf jeden Fall gerettet, bei einer Niederlage ist der Abstieg garantiert, und bei einem Unentschieden hängt das Schicksal von den Ergebnissen der Rivalen im Tabellenkeller ab. Mehr Anspannung geht kaum. „Dieser Druck hemmt uns nicht, sondern scheint uns sogar zu beflügeln“, sagt Daniel Schwaab – um hinzuzufügen, „dass es ja Wahnsinn wäre, wenn wir diesen Druck immer brauchen würden, um unsere Leistung abzurufen“.

Die Frage an Robin Dutt ist schon berechtigt. Ob er sich denn nicht freue, will ein Reporter nach dem Erfolg gegen den HSV wissen. Doch, doch, versichert der Manager, aber erstens sei noch nichts erreicht. Und zweitens ist Dutt sowieso keiner, der übermäßig emotional reagiert. Vielmehr strahlt er Ruhe aus – was in diesen komplizierten Monaten sogar eine Strategie von ihm war. So hatte Dutt zwischendurch zwangsläufig zwar auch mal leichte Zweifel an seinem Trainer, aber im Endeffekt stützte er Huub Stevens – das Resultat: Ruhe. Weiter eröffnete Dutt keine Nebenkriegsschauplätze – das Resultat: Ruhe. Er suchte die Schuld nie bei den Schiedsrichtern und klagte nicht über Verletzungspech (Daniel Didavi, Antonio Rüdiger) – das Resultat: Ruhe. „Es war enorm, wie der Verein immer die Ruhe bewahrt hat. Das hat uns Spielern unheimlich geholfen“, sagt Martin Harnik.

Möglich war das aber nur, weil die Fans auch bei diesem Punkt mitgezogen haben. „Die Ruhe war wichtig, damit sich jeder auf Fußball konzentrieren kann“, sagt Dutt, „und diese Ruhe hat auch dazu geführt, dass eine andere Mentalität im Team entstanden ist.“ Diese Gesinnung war für den Manager dann wiederum die Grundlage dafür, dass dem VfB nun erstmals seit September 2013 zwei Siege nacheinander gelungen sind. Obwohl der HSV in Führung gegangen ist, hat sich die Mannschaft nicht aus der Ruhe bringen lassen – Ruhe als eine Folge der gesamten Entwicklung.

Das Spiel ist aus. Die Spieler marschieren in die Cannstatter Kurve und bedanken sich bei den Fans. Dazu muss Thomas Hitzlsperger jetzt nichts mehr sagen.