Der VfB Stuttgart steckt mitten im Abstiegskampf – und vermisst Führungsspieler, die die Nerven bewahren und dem Nachwuchs Halt geben. Das war in der Vergangenheit anders.

Stuttgart - Früher, als der Fußball noch keine Wissenschaft und Thomas Schneider (41) selbst Spieler war, sind die Regeln hart, aber einfach gewesen. Da mussten die Nachwuchskräfte beim VfB Stuttgart nicht nur die Sprudelkisten tragen – sondern auch damit rechnen, den Trainingsplatz auf allen vieren zu verlassen. „Es war damals an der Tagesordnung“, sagt der VfB-Trainer, „dass die etablierten Spieler den jüngeren so lange auf die Socken gehauen haben, bis sie nicht mehr laufen konnten. Da wurde oft von hinten getreten, bis die Bänder rissen.“

 

Heute dienen die jungen Spieler in ihren Lehrjahren nicht mehr als Opfer der Routiniers – heute sind sie dafür zuständig, den VfB in der Bundesliga zu halten. Undankbar ist auch diese Rolle.

Die Hierarchien sind flacher geworden

Reflexartig wird im Fußball der Ruf nach erfahrenen Führungsspielern laut, wenn einer Mannschaft das Wasser bis zum Hals steht. Das ist nicht nur beim VfB so. Alphatiere wie Stefan Effenberg, Lothar Matthäus oder Oliver Kahn gibt es aber nicht mehr, wahrscheinlich würden sie mit ihrem Dominanzanspruch innerhalb einer Gruppe inzwischen sogar große Probleme bekommen. Die Hierarchien sind flacher, die Spieler selbstbewusster geworden. Eines jedoch gilt nach wie vor: ohne Führung geht es nicht. Vor allem wenn man im Abstiegskampf steckt und viele junge Spieler in seinen Reihen hat, die eine solche Extremsituation noch nicht erlebt haben. „Es ist ganz wichtig, Führungsspieler zu haben, die die Kernelemente des Fußballs weitergeben“, sagt Thomas Schneider.

Nur: wo sind sie beim VfB? Der Verein hat in diesem Bereich schon seit längerer Zeit ein gewaltiges Problem, das noch größer wird, wenn der Kapitän Christian Gentner (28) wochenlang verletzt und der Torjäger Vedad Ibisevic (29) wochenlang gesperrt ist. Dann bleibt praktisch niemand mehr, an dem sich Rani Khedira (20), Timo Werner (17), Antonio Rüdiger (20) oder Robin Yalcin (20) orientieren und aufrichten könnten. Martin Harnik (26) wäre dafür eigentlich vorgesehen, doch hat er seit Wochen mit sich selbst und seinen unbefriedigenden Leistungen zu kämpfen; Daniel Schwaab, der Einserabiturient in der Innenverteidigung, ist eher introvertiert.

Der Zickzackkurs des Trainers

Es war zudem ganz sicher nicht die beste Idee von Thomas Schneider, die Hierarchie innerhalb der Mannschaft zu Beginn des neuen Jahres über den Haufen zu werfen. Ibisevic wurde zum Ersatzkapitän befördert – und bewies mit der Roten Karte gegen Augsburg (1:4) eindrucksvoll, dass er dafür nicht geeignet ist. Georg Niedermeier wiederum, kein begnadeter Fußballer, aber ein furchtloser Wortführer vergangener Tage, fand sich in diesem Spiel auf der Tribüne wieder – und trug im nächsten in Hoffenheim (1:4) die Spielführerbinde. Zu Stabilität und innerer Sicherheit trägt ein solcher Zickzackkurs nicht bei. „In einer Mannschaft muss jedem klar sein, wer das Sagen hat“, meint der frühere VfB-Profi Silvio Meißner, einer derjenigen, die nie den Kopf eingezogen haben, wenn es stürmisch wurde.

Auch Meißner (41) war mit dem VfB schon im Abstiegskampf, besonders kritisch wurde es 2001. Damals war die Stimmung um den Verein viel ruppiger als heute. Auswärts belagerten die Fans den Mannschaftsbus, im eigenen Stadion wurden die Spieler „beschimpft und bespuckt“, wie Meißner berichtet. Der entscheidende Unterschied aber war ein anderer: auf dem Platz standen am Ende Spieler, die Verantwortung übernahmen. Leute wie Zvonimir Soldo, Marcelo Bordon oder Krassimir Balakov, der den VfB mit seinem Lastminutetor gegen Schalke am vorletzten Spieltag vor der zweiten Liga bewahrte. „Das waren Spieler, die in den entscheidenden Momenten vorneweg marschiert sind. Nur so kann es funktionieren“, sagt Meißner: „Solche Typen gibt es beim VfB nicht mehr. Das ist ein Produkt der Entwicklung in den vergangenen Jahren.“

Silvio Meißner macht sich größte Sorgen

Also macht sich der Spielerberater nun größte Sorgen um seinen Ex-Club – zumal die Abstiegskonkurrenz aus Braunschweig, Freiburg und Hamburg viel eher verinnerlicht habe, worum es geht: „Wenn die demnächst nach Stuttgart kommen, werden sie dem VfB 90 Minuten auf die Socken hauen.“ Die Stuttgarter dagegen, das ist zumindest Meißners Eindruck, hadern lieber mit dem Schiedsrichter, anstatt sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. „Ganz ehrlich“, sagt er, „ich habe nicht mehr viel Hoffnung, dass der VfB in der Bundesliga bleibt.“