Der Interimstrainer Jürgen Kramny soll den VfB Stuttgart mit seinem Pragmatismus möglichst geordnet in die Winterpause führen. Ob das gelingt, zeigt sich am Sonntag gegen Bremen.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Stuttgart - Niemand weiß genau, wie so ein Trainerwechseleffekt wirklich aussieht. Auch nicht warum er sich manchmal einstellt und gelegentlich eben nicht. Die ganze Geschichte spielt sich ja auf einer psycho-emotionalen Ebene ab und ist demnach nicht zu greifen. Doch wer ein Gefühl für Jürgen Kramny bekommen will, der braucht nur auf den Saisonbeginn zurückzublicken. Der Chefcoach beim VfB Stuttgart hieß noch Alexander Zorniger. Der dozierte gerne über seinen Hochrisikofußball und löste rund um den Bundesligisten eine Systemdebatte aus, wie es der VfB seit Ralf Rangnicks Zeiten Ende der 1990er Jahre nicht mehr erlebt hatte.

 

Inmitten der ganzen Wortgewalt um eine einheitliche Spielkonzeption und der Sehnsucht nach Spektakelfußball blickte Kramny, damals in seinem Hauptjob als U-23-Trainer, auf sein junges Drittligateam und sah, dass es mit dem Dauerpressing nicht klappen würde. Also stellte er einfach um. Auf bewährten Ergebnisfußball. Ohne sich in Grundsatzdiskussionen zu verzetteln, aber in der Überzeugung, das einzig Richtige getan zu haben, um Punkte zu holen. Und so ist Jürgen Kramny als Trainer: sehr pragmatisch und wenig dogmatisch.

Eine Ahnung davon erhielten die VfB-Fans auch vor acht Tagen in Dortmund, als der Interimstrainer seinen Kampf um Stabilität im Stuttgarter Spiel auf großer Bühne eröffnete. Die Mannschaft zog ihre Verteidigungslinie wesentlich tiefer als in den Monaten zuvor. Ohne Erfolg zwar, aber am grundsätzlichen Ansatz wird sich vor der Begegnung an diesem Sonntag mit Werder Bremen nichts ändern. „Wir müssen kompakt auftreten, bissig in den Zweikämpfen sein und auch auf dem Platz für Reibungspunkte sorgen“, sagt Kramny.

Das erste Heimspiel nach dem Augsburg-Schock

Gesehen hat er das alles schon während der Trainingswoche. Doch nun steht das Heimspiel eins nach dem Augsburg-Schock für den VfB an. Ein Erlebnis, das nicht nur zu Zornigers Beurlaubung geführt, sondern ebenso den Club erschüttert und vieles auf der Wahrnehmungsebene verändert hat. So spielen die Stuttgarter jetzt nicht nur um Punkte im Abstiegskampf. Gleichzeitig geht es darum, verloren gegangenen Kredit beim Publikum zurückzugewinnen – und um Kramnys Trainerzukunft.

Er selbst blendet Letzteres aus. „Dortmund war Spiel eins für mich, Bremen ist Spiel zwei – das ist alles, was zählt“, sagt Kramny. Der Verein hofft jedoch, mit der einerseits sachlichen Trainingsarbeit und der andererseits dosiert-emotionalen Art des 44-Jährigen ordentlich in die Winterpause zu kommen. Das würde Robin Dutt den Druck nehmen, den richtigen Mann für den VfB möglichst zeitnah präsentieren zu müssen, und es würde dem Manager die Möglichkeit geben, die Zusammenarbeit mit Kramny unter Stressbedingungen zu testen. Denn auf dem Wasen wird viel dafür getan, um den Eindruck zu verstärken, dass Kramny eine gute Lösung ist – und auch längerfristig sein könnte.

Nicht jedoch, wenn es Kramny nicht gelingt, die Flut an Gegentoren einzudämmen. 35 in 14 Spielen hat der VfB bereits kassiert, das macht im Schnitt 2,5 pro Partie und würde am Saisonende zu einer Gesamtzahl von 85 Gegentreffern führen – die Bilanz eines Absteigers, weil die Offensive gar nicht so viele Tore erzielen kann, um diese Defensivschwäche auszugleichen.

Abwehr und Angriff wie zwei Elemente, die sich abstoßen

Ohnehin gilt das Zusammenführen von Abwehr und Angriff schon seit Jahren als die ultimative Trainerherausforderung in Stuttgart. Beide Bereiche verhalten sich im Spiel oft genug wie zwei Elemente, die sich abstoßen. Und zusammengenommen ergibt das dann eine Mischung aus individuellen und kollektiven Fehlern, die den VfB in eine Abwärtsspirale geführt haben.

Aus dieser herauszubrechen ist das große Ziel. Auch für Kramny, der seit 2010 an alter Wirkungsstätte als Fußballlehrer zurück ist: bei der U 19, als Co-Trainer der Interimslösung Jens Keller in der Bundesliga und als Coach der zweiten Mannschaft. Die hat er zuletzt stets vor dem Abstieg bewahrt, ohne die Talentförderung zu vernachlässigen. Eine Selbstverständlichkeit ist das in der dritten Liga nicht, eher eine Sisyphusarbeit, weil Kramny jedes Jahr mit einer neuen Mannschaft starten musste und im übertragenen Sinne immer wieder den schweren Stein den Berg hinauf rollte.

Beklagt hat er sich nie. Dafür kennt Kramny („Ich bin kein Frischling“) das Geschäft zu lang. Dazu kennt er als Ludwigsburger auch die Gemütsverfassung und die Ansprüche der Leute in der Region und im Verein, mit dem er als junger Spieler 1992 Deutscher Meister wurde, zu gut.