Seit zwei Jahren ist Bruno Labbadia in Stuttgart. Begegnung mit einem Trainer, der erfolgreich ist – mit dem das Umfeld aber auf seltsame Weise nicht richtig warm wird.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - An Tagen wie diesen will er eigentlich genießen. Er habe, sagt Bruno Labbadia, Erfolg immer zu selbstverständlich genommen. Der Genuss muss warten, auch nach dem 3:1 gegen Schalke.

 

Bruno Labbadia hat den offiziellen Teil des VfB-Spiels hinter sich gebracht. Nun steht er im Erdgeschoss der Mercedes-Arena im Pressekonferenzraum und beantwortet geduldig die Fragen im kleinen Kreis. Ein halbes Dutzend um ihn herum. Er schaut jedem in die Augen, er ist freundlich, ausführlich. Von hinten ruft Huub Stevens „Bruno, tschüssle“ rüber. Er hört es nicht, ist ins Gespräch vertieft. Vor einigen Minuten hat Bruno Labbadia noch gesagt, dass dies „ein großer Sieg“ gewesen sei, er hat von drei „super Punkten“ gesprochen. Seine Mimik ist jetzt eine andere. Er ist in Hab-Acht-Stellung. Nachdenklich. Konzentriert. Fokussiert. Er habe das Gefühl, hier ist „ein bisschen Untergangsstimmung“ und meint die Atmosphäre nach dem 0:1 gegen Molde 43 Stunden zuvor.

Es ist der Dienstag vor Molde und Schalke, vor der Niederlage und vor dem Sieg. Bruno Labbadia sitzt in Raum 84 auf der Geschäftsstelle. Der Vorraum ist weihnachtlich geschmückt, am Tannenbaum hängen Kugeln mit dem VfB-Wappen. Nummer 84 lebt nicht, ein schmuckloser, funktioneller Ort, ein Tisch mit Adventskerze, drei Stühle, ein Telefon. Bruno Labbadia kommt gerade vom Trainingsplatz. So sieht er auch aus. Er mag diese Oberflächlichkeiten nicht. Ob Anzug, Trainingsanzug oder Schlafanzug – Hauptsache, „man ist sich treu“, wird er später sagen.

Sein Vertrag läuft Ende der Saison aus

Es geht um ihn. Um seine zwei Jahre in Stuttgart. Um den Menschen Bruno Labbadia. Um den Trainer, der hier so kritisch hinterfragt wird und den Club erst vor dem Abstieg gerettet hat, dann in die Europa League geführt hat und der mit seiner Mannschaft in allen drei Wettbewerben dabei ist. Dessen Bilanz so gut ist und dessen Image so seltsam. Der 46-Jährige rührt in seinem Kaffee, zweimal Zucker, ein bisschen Milch. Nicht schwarz, nicht weiß, so sind die 24 Monate gewesen. Mal so, mal so. Dellen gab es, aber er ist noch immer hier.

Labbadia übernahm einen Verein in Schockstarre

Am Morgen hat ihm einer erzählt, dass er in der Stuttgarter Trainerhistorie mit 24 Monaten einen Spitzenplatz belegt. „Das wirft nicht unbedingt ein gutes Licht auf den Verein“, sagt er. Labbadia ist so lange hier, dass es Probleme gibt. Sein Vertrag läuft aus. Ein seltenes Vorkommnis beim VfB. Nach Weihnachten geht es um die Verlängerung. „Als Trainer weißt du, dass in ein paar Monaten alles vorbei sein kann. Aber ich arbeite hier so, als wäre ich noch lange hier. Ich will etwas entwickeln.“ Er ist leidenschaftlich, wortreich, freundlich, respektvoll. Selbst jene, die ihn kritisch verfolgen, attestieren ihm menschliche Größe und einen außergewöhnlichen Umgang.

Am 12. Dezember 2010 hat er in Stuttgart angefangen. Er fand einen Verein in Schockstarre vor. Und mit nur zwölf Punkten. Ein Umfeld voller Angst. Am Vorabend reist er an. Vieles geht ihm durch den Kopf. Ein Traditionsverein. Er hatte noch nie Abstiegskampf als Trainer. Die Zweifel an seiner Person. Es hieß, er könne nur Vorrunde. Und der Verein nur Rückrunde. Ein Miss-Match. „Ich war top vorbereitet.“ Er hat den Abstiegskampf verfolgt. Viele große Vereinen waren verwickelt, kleinere Clubs hatten schon viele Punkte gesammelt.

Der Soundtrack seines Wirkens

Die Konstellation war unglücklich und günstig zugleich für einen wie ihn, der eine neue Beschäftigung suchte. „Normalerweise bekommst du als Trainer während der Saison nur Vereine, die keine Topansprüche haben“ sagt er. „Aber Abstiegskampf bei einem großen Club ist auch brutal, weil die Erwartungshaltung unheimlich groß ist.“ Schafft man es, sagt jeder: war doch klar mit dem Kader, zu gut zum Absteigen. Klappt es doch nicht, ist man der Depp.

Am 9. April 2011 verliert der VfB zu Hause gegen Kaiserslautern nach einer 2:1-Führung noch 2:4. Präsident Erwin Staudt passt den Trainer ab. Es ist Zeit zu Handeln.

Staudt fragt: „Herr Labbadia, soll ich eine Brandrede halten?“

Labaddia antwortet. „Wenn ich denken würde, dass es gut wäre, dann ja. Aber wenn Sie jetzt noch reinhauen, wird das nichts.“

Staudt schweigt.

„Das rechne ich ihm hoch an.“ Die Rechnung geht auf. Labbadia führt den Club zum Klassenverbleib. Bruno, der Retter. Es geht schnell. Wie im alten Rom, sagt er heute. „Daumen hoch, Daumen runter.“

Xavier Naidoo hat 2006 den Begleitsong zum WM-Sommer geschrieben, im Refrain von „Dieser Weg“ heißt es: „Dieser Weg wird kein leichter sein / Dieser Weg wird steinig und schwer / Nicht mit vielen wirst du dir einig sein / Doch dieses Leben bietet so viel mehr.“ Wenn man Labbadias Wirken in Stuttgart musikalisch unterlegen wollte – dies wäre der Soundtrack.

Labbadia: „Ich bin ein sehr emotionaler Mensch“

Dieser Weg ist steinig und schwer. Bruno Labbadia sagt das oft. Die Worte variieren, der Inhalt bleibt gleich. Niemand will es mehr hören. So ist das Gefühl bei vielen Fans. Labbadia ist vielen in Stuttgart auf seltsame Weise fremd geblieben. Trotz der Erfolge. Es schmerzt ihn. Er vermisst Wertschätzung. Er nimmt einen Schluck Kaffee, macht eine Pause. „Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde: Das geht mir am Hintern vorbei.“ Er spricht von Emotionen, von Liebe. „Ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Ich bin gut, wenn ich Leidenschaft und Liebe gebe. Und wer viel fühlt, ist sehr verletzlich, sehr empfänglich für negative Dinge.“ Er glaubt, dass zwischen Botschaft und Boten nicht unterschieden wird. „Ich bin oftmals der Übermittler der schlechten Nachrichten. Ich muss ständig sagen: Alles ist eng. Wir müssen reduzieren. Es gibt Einschnitte. Wir sind im Umbruch. Ich will realistisch eingeschätzt werden, nicht nach dem Moto: Hey wir sind der große VfB, das muss so sein, sondern nach den Fakten.“ Er hält den Weg für gesund und aufrichtig, aber er hat Folgen, er geht nicht nur steil bergauf, es ist ein zackiger Chart wie bei einer Aktie. „Es ist eben ein längerer Weg.“

Die Kindheit hat ihn Demut gelehrt

Zeit ist ein rares Gut im volatilen Fußballgeschäft. Bruno Labbadia war Torjäger. Stürmer sind gut oder schlecht. Es ist eine Schwarz-Weiß-Position. Tor. Kein Tor. Eine ständige Gratwanderung zwischen wunderbar und wund liegen. „Du brauchst ein wahnsinniges Selbstwertgefühl, um damit zurechtzukommen.“ Er hat sich einen Panzer zugelegt, aber auch der hält nicht alles ab. Es geht ihm immer auch um Respekt. Ein großes Wort, ein wichtiges Wort in seinem Wertesystem. Kürzlich hat man ihn gefragt, was er an Franz Beckenbauer schätze. „Wie er mit Menschen umgeht“, hat er geantwortet. Dass der Kaiser einfach der Franz ist. Sich nicht für etwas Besseres hält. „Das ist auch mir ganz wichtig.“

Markus Babbel hat mal gesagt: „Gewinne ich, bin ich ein guter Trainer. Verliere ich, bin ich ein schlechter Trainer.“

Etwas komplizierter ist es. Was entwickelt ein Trainer? Holt er aus dem Kader das Beste heraus? Fördert er Talente richtig? Es gibt Zweifel, besonders an Letzterem. Die jungen Wilden sind integraler Bestandteil der Stuttgarter DNA. Die Sehnsucht nach jungen, identitätsstiftenden Spielern. Bruno Labbadia wird emotional. Er haut mit der flachen Hand leicht auf den Tisch. „Es ist nicht normal, dass ein Holzhauser mit 19 regelmäßig spielt.“ Manche seien zu bequem, anderen fehle die Geduld. Er will etwas Nachhaltiges schaffen, keine Effekthascherei betreiben, das ist seine Philosophie. „Berater, Eltern, Medien – die Jungen haben so viele Einflüsterer, dass es oft schwer ist, systematisch zu arbeiten. In Fürth spielen heute fünf Spieler, die ich zu den Profis hochgezogen habe. Man braucht Zeit. Nicht jeder ist ein Mario Götze.“

Die Rolle als Mahner ist Neuland

So eine Frage hat ihn vor wenigen Wochen in die „Wutrede“ geführt. Vorbereitet war sie nicht. Auf dem Weg zur Pressekonferenz hatte ihn einer angepikst, wie er sagt. „Nur das ,am Arsch geleckt‘ war so geplant – ich weiß ja, wie Medien diese Dinge aufnehmen.“ So ein Auftritt hat mit Unabhängigkeit zu tun. Die Familie ist in Hamburg geblieben. Sohn Luca hat in fünf Jahren drei Schulen besucht. Die Familie fehle ihm jede Minute, aber es hat auch einen Vorteil: Freiheit. „Ich kann so eine Rede halten und muss mir nicht überlegen, es lieber sein zu lassen, um meine Familie zu schonen.“

Die Rolle als Mahner ist Neuland. Die Kurve liebte diesen nimmermüden Kicker. Bruno Labbadia hat als einziger Spieler mehr als 100 Treffer in der ersten und zweiten Liga erzielt. Es gibt ein Tor, das die Blaupause seiner Arbeitsethik ist. Es fällt im Mai 1991. Er ist mit Lautern zu Gast bei Leverkusen. Labbadia dringt von der rechten Seite in den Strafraum ein. Halb sinkt er, halb fällt er. Er steht auf, behauptet den Ball. Er fällt wieder. Steht auf. Er stolpert weiter, die Kugel bleibt bei ihm. Er zieht in den Fünfmeterraum. Trifft ins kurze Eck. Fällt. Jubelt. Wille. Leidenschaft.

Als Jugendlicher ist er mit Darmstadt mal bei einem Turnier Zweiter geworden. Die Kameraden haben danach getobt und gelacht. Er heult. So war er als Kind, als Profi, so ist er als Trainer. Zweiter ist Mist. Nach einem Benefizspiel hat er frustriert gesagt: „Ich hab gespielt wie ’ne Bratwurst.“ Immer alles geben, ist seine Basis. Das erwartet er auch von seinen Spielern.

Sein Vater hat auf dem Bau gearbeitet, er ist das jüngste von neun Kindern, er musste die alten Klamotten auftragen. Es war eine ärmliche Kindheit, eine harte Zeit. Sie hat ihn Demut gelehrt, Respekt vor anderen. Er gilt als ehrgeizig, als akribisch, als besessener Arbeiter. Es heißt, er überfordere die Spieler bisweilen. „Manchmal hat man ja heute das Gefühl, dass solche Attribute negativ behaftet sind. Wir sind so ein fantastisches Land, weil Menschen ehrgeizig, akribisch und besessen waren“, sagt er.

Zwischen Distanziertheit und voller Leidenschaft

Die Tochter studiert Journalistik, es ist ein harter Job, sagt er. Bruno Labbadia liebt Zeitungen und Magazine, auch wenn seine Zuneigung gelitten hat. Er liest gerne im Café bei Kaffee und Kuchen. „Es macht mir Spaß, im ,Spiegel‘ eine coole Reportage zu lesen“, sagt er. Nach sich sucht er heute nicht mehr. Es sei nicht seine Motivation, sein Bild in Gazetten zu sehen.

Auf merkwürdige Art wirkt er distanziert und doch voller Leidenschaft für seine Arbeit in Stuttgart, für seine Mannschaft (die ihn siezt), ja auch für die Stadt.

Es ist nicht Heimat, die war bis zum Tod der Eltern Darmstadt, heute ist „bei meinem Leben Heimat im Kopf“. Stuttgart ist sein Arbeitsplatz. Aber er hat die Stadt ins Herz geschlossen. Er schwärmt vom „mediterranen Lebensgefühl“: „An Sommertagen, wenn du um ein Uhr nachts aus dem Restaurant kommst, ist alles voll. Die Theodor-Heuss-Straße, die ganzen Plätze, so etwas habe ich bisher in keiner Stadt erlebt.“

Noch kommt der Genuss etwas zu kurz.