Als eine der wenigen Städte in Deutschland hat Villingen-Schwenningen Nein gesagt zu Stolpersteinen – 2004 und jetzt wieder. Die Angehörigen von NS-Opfern sind fassungslos, viele Bürger enttäuscht. Ihr Protest formiert sich.

Villingen-Schwenningen - Den Mantelkragen hochgeklappt, eine Ledermappe unterm Arm, steht Pierre-Louis Bikart auf dem Bürgersteig der Waldstraße und blickt in ein Schaufenster mit den neuesten Hyundai-Modellen. „Auf diesem Grundstück haben sie gewohnt, hier könnten die Steine hin“, sagt der 62-Jährige, der aus Straßburg nach Villingen-Schwenningen angereist ist. Vor ihm ein Autohaus, nagelneue Wagen parken auf zwei Etagen. „Da drüben auf dem Weiher waren sie immer Schlittschuhfahren.“ Bikarts Elsässerdeutsch klingt weich und rund, oft fehlen ihm die Worte, seine Muttersprache ist Französisch.

 

Bis Ende 1936 hat seine jüdische Familie in der Waldstraße gelebt. Sein Großvater Louis, ein Viehhändler, hatte sechs Kinder, war Mitbegründer des FC 08 Villingen, sein Vater Sigmund war schon als Junge ein begeisterter Kicker. Als der staatliche Terror zu bedrohlich wurde und sie um ihr Leben fürchten mussten, tauschten sie mit einer Familie bei Paris das Haus. „Sie dachten, sie seien in Frankreich vor den Nazis in Sicherheit, was für ein Irrtum.“ Fünf Familienmitglieder wurden 1942 nach Auschwitz deportiert, nur Sigmund Bikart überlebte, abgemagert auf 33 Kilo.

Pierre-Louis Bikart kämpft gegen das Vergessen, das treibt ihn um. Seit bald zehn Jahren erzählt er in Villingen die traurige Geschichte seiner Familie und kann nicht fassen, was für ein Drama sich in der ansonsten recht ereignisarmen Doppelstadt bald 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges abspielt. „Die haben einfach nichts dazugelernt“, sagt er und schweigt.

44 000 Stolpersteine sind europaweit schon verlegt

Die Steine, die die Stadt spalten wie kaum etwas zuvor, wiegen zwei Kilo das Stück. Sie haben eine glatt polierte Messingplatte, zehn auf zehn Zentimeter, darin eingraviert die Namen der Toten, ihre Lebens- und Sterbedaten. 44 000 dieser kleinen Mahnmale an die Opfer des Nationalsozialismus sind europaweit schon verlegt worden, allein in Deutschland haben sich mehr als 900 Kommunen für das Kunst- und Geschichtsprojekt entschieden, doch in Villingen-Schwenningen mit seinen 81 000 Einwohnern ist es unerwünscht. Schon zwei Mal hat der Gemeinderat seine Zustimmung zu dem Mahnmal an den Holocaust verweigert, 2004 und erneut vor wenigen Wochen. Die Situation ist verfahren, die Gräben zwischen den politischen Lagern scheinen unüberwindbar.

Die Stadt hat ein Problem mit der Bewältigung ihrer braunen Vergangenheit. Nur so lässt sich der Streit über das richtige oder falsche Gedenken erklären, das schon so lange andauert und viele Beteiligte hat. Unter ihnen ein Rechtsextremist und früherer Polizist, der bis vergangenen März die NPD in Baden-Württemberg angeführt hat und im Gemeinderat von Villingen-Schwenningen sitzt. Ein entrüsteter evangelischer Pfarrer, der sich über alle Konfessionen hinweg mit seinen Kollegen zusammengeschlossen hat, um die Erinnerungssteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig doch noch in seine Stadt zu holen. Und eben Pierre-Louis Bikart, der Sohn eines Auschwitz-Überlebenden, der ganz offen von Antisemitismus redet.

Der Sohn eines Auschwitz-Überlebenden ist empört

Der Franzose hat beim SPD-Oberbürgermeister angeklopft, war dabei, wie der Gemeinderat mit einer knappen Mehrheit aus CDU, Freien Wählern und einem Vertreter der Deutschen Liga Nein gesagt hat zu den Steinen, auf denen die Namen seiner Verwandten stehen sollen. Der Vater, die Großeltern, die zwei Tanten, der Onkel. „Sogar am Boden stören die Juden noch“, sagt Pierre-Louis Bikart. Er sagt es leise, nachdenklich, wie es seine Art ist. Er nimmt sich Zeit zu verstehen und kann die Argumente, die er hört, nicht glauben. „Die wollen sich nicht erinnern“, ärgert sich der Franzose, „das kann doch nicht wahr sein.“

Die CDU und die Freien Wähler verstummen

Die Steine, die die Stadt spalten, lassen die Politiker verstummen. „Für uns ist die Sache abgeschlossen, wir wollen unsere Ruhe“, erklärt Renate Breuning, die Fraktionschefin der CDU und sagt ein Treffen mit der Presse kurzerhand wieder ab. Sie habe genug von den Beschimpfungen und beleidigenden Leserbriefen in den Zeitungen, schließlich gäbe es keinen Zwang, ein Kunstprojekt zu verwirklichen, das in einer demokratischen Entscheidung abgelehnt worden sei. Sie verweist auf München, wo 2004 auf Wunsch der Jüdischen Gemeinde diese Form des Gedenkens untersagt wurde. Zwei bereits ins Pflaster eingelassene Steine wurden daraufhin wieder herausgerissen, 200 fertige Steine lagern unverlegt in München.

Die schärfste Kritikerin des Kunstprojekts, Charlotte Knobloch, damals noch Präsidentin der Israelitischen Gemeinde München und des Zentralrats der Juden in Deutschland, fand mit ihren Bedenken bei den Kommunalpolitikern Gehör: „Damit wird das Andenken von Menschen, die Verfolgung und Entwürdigung erleben mussten, bevor sie auf schreckliche Weise ermordet wurden, nochmals entwürdigt und sprichwörtlich mit Füßen getreten.“

Nur der Rechtsextremist will sich äußern

Zugeknöpft gibt sich auch Erich Bißwurm, Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler, in Villingen-Schwenningen: „Kein Kommentar, das Thema ist für mich erledigt“, lässt er wissen. Nur der Dritte im Bunde der Blockierer, Jürgen Schützinger von der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“, zeigt sich auf Anhieb gesprächsbereit. „Wir waren mal fünf“, sagt der 60-Jährige, der mit seinem wallenden Bart viel älter aussieht, als er ist. Er sitzt im dunklen Anzug auf einer Eckbank im Villinger Restaurant Schnitzelhaus und denkt gerne zurück, wie Anfang der 90er Jahre noch drei Republikaner und zwei NPDler, zu denen Schützinger gehörte, die „Vereinigte Rechte“ gebildet haben. Ein Sitz im Rat ist den Rechtsextremen geblieben, Schützinger mit seiner Mischung aus Polemik und Bürgernähe wird seit drei Jahrzehnten immer wieder gewählt. Er ist Mitglied in der Narrenzunft, gründete den Förderverein Freibadfreunde Schwenningen und hält jetzt bei den Stolpersteinen dagegen. Er wolle auf keinen Fall „die Geschäftemacherei des sogenannten Künstlers Herrn Demnig zu Lasten von Toten“ unterstützen“. Der habe in den vergangenen Jahren Millionen damit verdient. Außerdem sähe er in Villingen-Schwenningen keinen Nachholbedarf an Gedenken.

Das Erinnerungsknäuel wird immer verworrener, längst wird gezupft und gezogen, wo kein Faden mehr nachgibt. Mit München, eine der wenigen Städte in Deutschland, die die Stolpersteine nicht wollen, lässt sich die Situation nicht recht vergleichen, denn dort haben die Nachfahren der Betroffenen die Verlegungen ausgebremst, dort hat die jüdische Gemeinde ihr Veto eingelegt. In Villingen-Schwenningen dagegen sind die jüdischen Bürger nicht miteinbezogen worden in die Frage, welche Art des Gedenkens am besten passt. „Wir wurden nicht gefragt“, sagt Tatjana Malafy, die Geschäftsführerin der Jüdischen Gemeinde Rottweil/Villingen-Schwenningen, „aber für mich steht fest: Die Idee der Stolpersteine ist gut.“

Die Wut der Bürger über das Nein zu den Steinen wächst. Jeden Sonntagabend stehen sie auf dem Münsterplatz in Villingen mit Kerzen in der Hand, verlesen Texte über NS-Opfer. Und längst haben sich verschiedene Gruppen und Initiativen gebildet, die überlegen, wie der

Die Tafel, die auf einen früheren Betsaal der jüdischen Gemeinde verweist, wurde weit entfernt davon aufgehängt. Der Hausbesitzer fürchtete damals um den Wert der Immobilie. Foto: Heinz Heiss
Protest weitergehen kann. Der evangelische Pfarrer Frank Banse, gemütlicher Bauch und kein bisschen konfliktscheu, ist mit dabei, wann immer es geht. „Die Stadt hat ein großes Defizit bei der Erinnerungsarbeit“, kritisiert er offen. Er hat sich mit den anderen Geistlichen zusammengetan, ein katholisch-evangelisch-methodistisches Bündnis. „Wir verstehen uns als das Gewissen in der Stadt.“ Gemeinsam haben sie die erneute Abstimmung über die Stolpersteine im Gemeinderat angeregt. Das Ergebnis hat sie überrascht.

Das Gedenken ist für alle nachkommenden Generationen wichtig, das wissen Frank Banse und die Bürger, die sich an diesem nebligen Freitagabend in einem Gemeindesaal treffen. Sie wollen handeln, nicht immer nur reden, sie wollen Tatsachen schaffen und Angehörigen wie Jean-Pierre Bikart wieder in die Augen schauen können. Der neue Antrag der CDU und Freien Wähler im Gemeinderat, ein alternatives Konzept für Mahnmale und Gedenktafeln zu entwickeln, interessiert sie nicht. „Die möchten alle einen Schlussstrich ziehen unter etwas, das nie begonnen hat“, sagt ein emeritierter Physikprofessor in die kleine Runde hinein, „wir müssen die erst mal aufwecken.“ Sein Vorschlag ist provokant, die Zustimmung groß. „Wie wäre es, die Steine beim Künstler einfach zu bestellen. Gunter Demnig werde sich darauf einlassen, das habe er schon zugesagt.

Jean-Pierre Bikart besucht den früheren Betsaal

Voller Zuversicht, dass der Widerstand eines Tages noch erfolgreich sein wird, ist auch Jean-Pierre Bikart. Die Stadt müsse sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, sagt er und traut sich, was er zuvor noch nie gemacht hat. Er klingelt in der Gerberstraße 33, ein gelbes Wohnhaus. Im ersten Stock hatte die Jüdische Gemeinde, die in Spitzenzeiten bis zu 60 Mitglieder zählte, einen Betsaal. Die Bikarts gingen hier ein und aus, waren bestens befreundet mit den Bewohnern, die in der Reichspogromnacht deportiert wurden. Nur ein paar Schritte sind es hinauf, mitten hinein in die jüdische Geschichte.

Er wolle nicht aufdringlich sein, entschuldigt Bikart und trifft auf eine herzliche Italienerin. Sie bete jeden Morgen für die toten Juden, sagt sie und zeigt auf eine Nische in der Wand, wo früher die Thora-Rolle lag. Jetzt stehen dort ein Holzschrein und eine Klangschale. Die Buddhistin ist empört über das Hickhack um die Gedenktafel für den Betsaal. Die Metallplatte hängt 150 Meter entfernt an einem Brunnen. Der einstige Hausbesitzer habe sich in den 80er Jahren geweigert, dem Erinnern einen Platz zu geben, erzählt sie – aus Angst, dass ein Hinweis auf die früheren Besitzer den Wert der Immobilie gemindert hätte.