Stadt und Region warnen Winfried Kretschmann in einem Schreiben vor einer Absage des Bahnprojekts. Die Grünen sprechen von einem "Drohbrief".

Regio Desk: Achim Wörner (wö)

Stuttgart - Wenn Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) Anfang kommender Woche von seiner Südamerikatour in die Villa Reitzenstein zurückkehrt, wird er unangenehme Post auf seinem Schreibtisch finden. Und zwar einen Brandbrief von Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, dem Regionalpräsidenten Thomas Bopp und der Regionaldirektorin Jeannette Wopperer (alle CDU), die das Land Baden-Württemberg kurz vor der Volksabstimmung ausdrücklich vor einem Ausstieg aus Stuttgart 21 warnen. Pikant ist das fünf Seiten umfassende Schreiben vor allem deshalb, weil Stadt und Region neben der BahnAG, dem Bund und dem Land Vertragspartner sind bei dem Milliardenprojekt.

 

"Bei allem Verständnis für die unterschiedlichen Meinungen zu Stuttgart21: Wir dürfen nicht vergessen, dass alles was von den Vertragspartnern geschrieben und gesprochen wird, immer auch eine juristische Komponente hat. Und die ist nicht unerheblich", so der Rathauschef gegenüber der Stuttgarter Zeitung: "Wir reden hier über Milliardenbeträge. Geld, das von uns Steuerzahlern aufgebracht werden muss. Ich bin als Oberbürgermeister verpflichtet, Schaden von der Stadt abzuhalten. Deshalb mussten wir unsere rechtliche Position gegenüber der Landesregierung deutlich darstellen."

Kritik an Informationsbroschüre

Stadt und Region betonen, es bestehe bei den Stuttgart-21-Verträgen weder ein vertragliches noch ein außerordentliches Kündigungsrecht. "Ein Ausstieg aus dem Projekt bedeutet daher einen Vertragsbruch, der von uns nicht mitgetragen und unterstützt wird", heißt es in dem Schreiben, in dem deutliche Kritik an der an alle Haushalte im Land verteilten Informationsbroschüre der Regierung geübt wird. "Die von Ihnen genannte Schadenersatzsumme von höchstens 350 Millionen Euro ist unrealistisch", so Schuster, Bopp und Jeanette Wopperer, nachdem die Bahn ihrerseits von mindestens 1,5 Milliarden Euro an Regressforderungen ausgeht.

Vorbeugend stellen Stadt und Region klar, sich nicht an möglichen Schadenersatzzahlungen an die Bahn zu beteiligen. Mehr noch: "Auch auf eigene Schadenersatzansprüche werden wir nicht verzichten", so der Tenor. Konkret geht es nach Ansicht von Schuster unter anderem um 700 Millionen Euro aus der bei einem Ausstieg notwendigen Rückabwicklung der getätigten Grundstücksgeschäfte mit der Bahn im Bereich des heutigen Gleisvorfeldes. Zudem müssten Projekte der stadteigenen Stuttgarter StraßenbahnenAG, die in Erwartung von Stuttgart 21 angegangen worden seien, gegebenenfalls ebenso berücksichtigt werden, betont Schuster.

Schuster moniert mangelnde Transparenz

Ganz anders die Sicht von Peter Pätzold, dem Fraktionschef der Grünen im Stuttgarter Gemeinderat, und SÖS-Stadtrat Gangolf Stocker. Stuttgart wäre bei einer Absage des Projekts ein Gewinner, sagen sie - unter anderem, weil die Stadt sich bei der Rückabwicklung des Gleiskaufs über einen "schweren Geldregen" freuen könne.

Der Verband Region Stuttgart möchte sich unterdessen im Falle des Ausstiegs auf jeden Fall jene 50 Millionen Euro zurückholen, die für das Projekt bereits geflossen sind, so die Aussage auf Anfrage. Und auch der Flughafen Stuttgart kündigte gegenüber der StZ an, bei einem Scheitern von Stuttgart 21, von dem jedoch nicht ausgegangen werde, schon bezahlte Gelder wiederhaben zu wollen. Dies sei vertraglich geregelt, wobei allein in diesem Fall ein Betrag von 118Millionen Euro in Rede steht. Und der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart (IHK), Andres Richter, geht davon aus, dass sich auch Firmen im Zweifelsfall schadlos halten. Wie berichtet, hat die Bahn nach eigener Aussage rund 50Prozent aller Aufträge bereits vergeben.

Schuster, Bopp und Jeannette Wopperer monieren in ihrem Brief unterdessen auch eine mangelnde Transparenz der Landesregierung. So seien in der Informationsbroschüre erwähnte Alternativprojekte wie Kopfbahnhof21 gar nicht finanziert; zudem werde nicht dargelegt, wie die erforderliche Hochgeschwindigkeitstrasse dann durch das dicht bebaute Neckartal geführt werden sollte. Auch werde es ohne Stuttgart21 keine Neubaustrecke Wendlingen-Ulm geben, da beide Projekte "verkehrlich und vertraglich" eng miteinander verknüpft seien. Die Stadträte Pätzold und Stocker halten diese These wiederum für nicht haltbar - und fordern die Verfasser auf, "von weiteren derartigen Drohbriefen abzusehen".