Am Tag nach der Niederlage bei der Volksabstimmung sortiert sich das Aktionsbündnis neu. Dahlbender tritt zurück, die Montagsdemos stehen wohl vor dem Aus.

Stuttgart - Am Morgen, nachdem das Volk gesprochen hat, herrscht Schweigen im Park. Verlassen steht der Infotisch der Parkschützer an einer Weggabelung unweit des Planetariums. Überall liegen die Werbebroschüren für den Volksentscheid aus – doch die Botschaften sind von gestern, die Prospekte über Nacht nutzlos geworden. Vor den Wigwams des Widerstands haben die Parkschützer ein Banner aufgespannt, dessen aufgedruckte Parole noch gilt – auch nach der deutlichen Abstimmungsniederlage der Gegner von Stuttgart 21: „Herr Kretschmann, verhindern Sie die Zerstörung des Schlossgartens!“

 

Der Spruch hat einen beinahe beschwörenden Unterton. Fast sinnbildlich steht er für eine neue Bescheidenheit im Auftreten des Aktionsbündnisses, das sich an diesem Montag neu sortieren muss und morgens noch nicht weiß, ob es abends überhaupt noch eine Zukunft hat. Das gilt auch für die Parkbesetzer, deren Zelte wie bunte Farbtupfer über den Schlossgarten verteilt sind – wie es mit ihnen weitergeht, erscheint nach dem Volksentscheid offener denn je. Die CDU hat die grün-rote Landesregierung aufgefordert, die Zeltstadt so schnell wie möglich zu räumen.

Der Widerstand leidet an diesem Tag schwer unter dem Novemberblues, auch bei der Mahnwache am Nordausgang des Hauptbahnhofs. Dort diskutiert Kornelia Emke mit den Passanten. In allen Gesprächen schwingt die Enttäuschung mit, mitunter auch Resignation. Seit anderthalb Jahren läuft der Widerstand gegen den Tiefbahnhof heiß, und Kornelia Emke weiß noch nicht, ob und wie sie weitermachen will: „Stuttgart hatte die Chance, die Demokratiehauptstadt des 21. Jahrhunderts zu werden“, sagt sie, „aber gestern hat die Demokratie verloren.“

Bittere Niederlage

Die Niederlage schmeckt besonders bitter, für all jene, die Baustellen blockiert, die Mahnwachen am Laufen gehalten haben und an vielen Montagen ihrem Protest vor dem Bahnhof Gehör verschafft haben. Kornelia Emke schüttelt den Kopf, der Volksentscheid hat ihren Zorn nicht geschmälert, ihr keinen Frieden gebracht. „Die SPD hat sich auf einen dämlichen und fiesen Deal eingelassen. Und die Grünen haben sich über den Tisch ziehen lassen.“ An der Mahnwache gilt für sie auch weiterhin: wir gegen die anderen. Für die anderen hat sie einen Begriff gefunden, der auch die Verbohrtheit der Gegenseite aufzeigen soll: „die Tunnelaner“.

Viele haben in der Nacht auf den Montag schlecht und kurz geschlafen, weil ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen wollten. Auch für Brigitte Dahlbender war die Nacht kurz. Die Landesvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) wird an diesem Montagmittag ihren Rücktritt als Sprecherin des Aktionsbündnisses bekanntgeben. Das weiß sie schon, als sie nach dem Mittagessen ihre beiden Rollkoffer die Treppen zum Rathaus hinaufwuchtet. Vor der Tür zündet sie sich eine Zigarette an, atmet durch, vor ihr liegt ein schwerer Gang. Sie muss sich beim Treffen des Aktionsbündnisses erklären. Auch Brigitte Dahlbender hat am Sonntagabend verloren. Doch die zierliche Frau, die sich beim männerdominierten Schlichtungsclub im Rathaus vor einem Jahr Respekt verschaffte, weigert sich, nur das Negative zu sehen. „Unsere Bewegung hat viele verkrustete Strukturen in Baden-Württemberg aufgebrochen“, sagt sie. „Und in Stuttgart hat sich durch den Widerstand eine Menge verändert. Rund um das Aktionsbündnis sind neue Netzwerke entstanden, von denen zumindest einige Bestand haben werden.“ Auch wenn Stuttgart 21 gebaut würde, könne die Politik in Zukunft die Kosten von Großprojekten nie wieder künstlich herunterrechnen.

Emanzipation durch den Protest

Das Volk habe sich emanzipiert durch den Protest, glaubt die Biologin, die mit ihrem Mann in einem Vorort von Ulm wohnt und seit Monaten ein Leben im Pendelverkehr führt: Ulm–Stuttgart, Hin- und Rückfahrt, bis zur Erschöpfung. In den vergangenen Wochen hatte ihre Arbeitswoche zwischen 80 und 100 Stunden. Der Endspurt beim Volksentscheid war nichts für Kurzstreckenläufer.

Jetzt ist es an der Zeit, Atem zu holen. Brigitte Dahlbender wird in der nachmittäglichen Strategiesitzung des Aktionsbündnisses eine Zäsur vorschlagen: Die Montagsdemos sollen beendet werden, der Protest sich nur noch bei besonderen Anlässen auf der Straße zeigen. Aus dem Aktionsbündnis soll ein Fachbündnis werden, das Kritik übt, aber keine Fundamentalopposition. Aus der Sicht der BUND-Landesvorsitzenden hat die Demokratie am Sonntag nicht verloren – sie hat nur eine Mehrheit ergeben für eine Meinung, die nicht ihre ist. „Das muss man aushalten“, sagt sie, „auch wenn ich enttäuscht bin, dass wir sogar in Stuttgart eine Mehrheit für unser Anliegen so deutlich verfehlt haben.“

Nur noch ein halbes Führungsduo

Die Weichen werden am Montagmittag für den Widerstand neu gestellt. Nach und nach treffen immer mehr Vertreter des Aktionsbündnisses im Rathaus ein, biegen bei den Paternostern im Erdgeschoss rechts ab und betreten Raum 11 – das Fraktionszimmer der Grünen. Schwungvoll durchschreitet der Architekt Roland Ostertag den Flur und legt erst an der Tür seine beiden Nordic-Walking-Stöcke zur Seite. Hannes Rockenbauch hat Unterlagen unter den Arm geklemmt, er kommt spät, aber noch vor dem Parkschützer Matthias von Herrmann. Zwei Stunden lang sind die Türen geschlossen. Komplizierter könnte die Herausforderung für die Runde kaum sein: Die Grünen tragen Regierungsverantwortung im Land, der BUND tritt mäßigend auf, die Parkschützer haben schon Sonntagnacht signalisiert, dass sie ihren Protest erst aufgeben, wenn Stuttgart 21 gestoppt wird. Der Protest vertritt aber auch außerhalb dieses Besprechungszimmers die verschiedensten Interessengruppen: Grüne und Sozialdemokraten, Alte und Junge, Ingenieure und Architekten, Unternehmer und Theologen – alle bisher vereint unter dem großen Dach des Aktionsbündnisses.

Als die Tür des Besprechungszimmers wieder aufgeht, ist vom Führungsduo des Aktionsbündnisses nur noch Hannes Rockenbauch übrig geblieben. Vor dem Stadtrat der Liste Stuttgart Ökologisch und Sozial und vor Brigitte Dahlbender haben die Kamerateams der Fernsehsender ihre Mikrofone aufgebaut – hinter den beiden hängt ein K-21-Transparent in Kopfbahnhofgrün. Viele im Widerstand hoffen an diesem Tag darauf, dass nicht auch dieses Symbol schnell seinen Weg ins Haus der Geschichte finden wird, das schon den alten Bauzaun am Nordausgang des Bahnhofs museal verwertet hat.

Nichts ist mehr, wie es war

Die Pressekonferenz dauert nur eine halbe Stunde. Genug Zeit, um deutlich zu machen, dass für den Widerstand nun nichts mehr so sein wird, wie es war. Die Montagsdemonstrationen stehen womöglich vor dem Aus, auch wenn darüber noch nicht endgültig entschieden wurde. „Aber es wird weitere große Demos geben, wenn es um die Bäume geht und um den Südflügel“, sagt Hannes Rockenbauch und fügt hinzu: „Wir brauchen Zeit, um darüber nachzudenken, was wir aus dem Ergebnis der Volksabstimmung lernen können.“

Das klärt der Widerstand nicht binnen zwei Stunden. Rockenbauch lädt alle Widerstandsgruppen zu einem Treffen im Großen Sitzungssaal des Rathauses ein. Schon am Sonntag soll die Versammlung dort stattfinden. Und erneut hat die Auseinandersetzung über Stuttgart 21 nach dem „Wutbürger“ und dem „Faktencheck“ ein neues Schlagwort hervorgebracht: beim „großen Ratschlag“ will der Protest über seine Zukunft diskutieren.

Fliehkräfte zügeln

Das Aktionsbündnis steht dann vor der Herausforderung, seine Fliehkräfte so zu zügeln, dass es als Ganzes nicht zerreißt. „Wir bleiben beim zivilen Ungehorsam“, sagt Matthias von Herrmann. Für Hannes Rockenbauch ist Stuttgart 21 „weiter Murks“. Doch es sind zwei Worte von Brigitte Dahlbender, die einen fundamentalen Schwenk andeuten. Das Projekt, sagt sie, werde sie „kritisch begleiten“.

Es sind die leisen Zwischentöne, die an diesem Tag die Musik machen. Und irgendjemand muss am Abend Regie geführt haben: Mit Paul Schobel steht ein Betriebs-seelsorger auf der Bühne, als um 18 Uhr die 101. Montagsdemonstration beginnt, die die vorletzte sein könnte. Erneut sind Tausende von Menschen zum Bahnhof gekommen, erneut werden die Zahlen der Polizei und die des Aktionsbündnisses am Ende auseinander liegen. „Wir haben wenig Grund zur Freude heute Abend“, sagt Schobel, „aber wir haben allen Grund, stolz zu sein.“ Und weil sich der Kirchenmann in seine Herde einfühlen kann, findet er jene Worte, die die Demonstranten brauchen: „Ich setze darauf, dass wir uns eine trotzige Hoffnung bewahren.“ Vieles ist an diesem Abend wie immer – und doch ist nichts wie sonst. Nach einer Schelte für die Bahn und den etablierten Politikbetrieb, findet Hannes Rockenbauch dezent selbstkritische Worte, als er eine Analyse der Wahlniederlage ankündigt: „Was haben wir vielleicht falsch gemacht?“ Der Widerstand hat einen harten Tag hinter sich. Und als die Vuvuzelas aufheulen, klingt es wie ein Klagelied.