Die Politikwissenschaftler von der Freiburger Arbeitsgruppe Wahlen haben die Volksabstimmung analysiert und erkennen drei allgemeine Trends.

Freiburg - Bisher haben die Politikwissenschaftler von der Freiburger Arbeitsgruppe Wahlen vor allem Bundestags- und Landtagswahlen analysiert. Jetzt konnten sie auch auf die Daten einer Volksabstimmung in Baden-Württemberg schauen. Diese Betrachtung führt zu zwei spannenden Thesen.

 

Die erste lautet: Trotz der Niederlage in der Sache habe das Referendum zu Stuttgart 21 "die Grünen eindrucksvoll als zweiten Pol im baden-württembergischen Parteienwettbewerb bestätigt". So schreiben die Professoren Dieter Oberndörfer, Gerd Mielke und Ulrich Eith. Es sei "ein respektabler Erfolg" für die Umweltpartei, eine "Gegnerschaft des Bahnprojektes von über 40 Prozent" mobilisiert zu haben.

Politanalysten erkennen drei allgemeine Trends

Die Beteiligung an der Volksabstimmung könne sich mit 48,3 Prozent "im Vergleich zu anderen Volksabstimmungen in Deutschland oder in den Nachbarländern sehr wohl sehen lassen". Über alle regionalen Unterschiede hinweg erkennen die Politanalysten drei allgemeine Trends: Je kleiner die Gemeinde, umso größer die Zahl der Projektbefürworter, so der erste. Entlang des Rheins ist die Distanz zu Stuttgart 21 besonders hoch. Das ist der zweite. Neu der dritte: die regionale Verteilung von Gegnern und Befürwortern des Tiefbahnhofs entspreche der Verteilung von grünen und christdemokratischen Hochburgen.

"Die CDU hat die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 als ,Rückspiel' der Landtagswahl vom März inszeniert", so die Wissenschaftler. Die Union habe es "mit entsprechendem Plakat- und Anzeigenaufwand vermocht, ihre Anhänger ausreichend an die Urnen zu bringen". Das sei ihr vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Raum gelungen, "wo sie durch ihre starke Repräsentanz in Vereinen und anderen Organisationen im vorpolitischen Raum über weitaus bessere Mobilisierungsmöglichkeiten verfügt als alle anderen Parteien".

Bei einer eher niedrigen Beteiligungsrate spielten zwei Wählergruppen eine Hauptrolle: die "gut informierten, gebildeten und engagierten" Bürger, "zumeist aus Mittelschichten"; zum anderen "Wähler mit besonders engen Bindungen an die beherrschenden Parteikontrahenten, in diesem Fall an die CDU und die Grünen".

SPD konnte nicht profitieren

Die SPD hat demnach als Erfinderin des Referendums nicht von ihr profitieren können. Ihrem Wählersegment komme kein entscheidendes Gewicht zu. Das habe auch daran gelegen, dass die SPD für ihre Anhänger kein einheitliches Bild abgegeben habe. Das sozialdemokratische Potenzial sei entweder der Abstimmung ferngeblieben "oder aber stand in seinen gebildeten Mittelschichtsteilen auf der Seite der Grünen".

Ein Blick in die Schweiz könnte den Grünen einen weiteren Trost bringen. Auch dort würden die meisten Referenden von konservativen Kräften gewonnen. Aber der Streit darum verhilft den behandelten Themen "zu einem festen Platz auf der politischen Agenda". Sie wirken so mittelfristig auf die öffentliche Meinung.

Bürger müssen Dinge in die eigene Hand nehmen

In ihrer zweiten These verankern die Politologen den grün-roten Plan, das direktdemokratische Element zu verstärken. Das könne nur dann erfolgreich sein, "wenn sich eine ,Kultur der Mitentscheidung' entwickelt". Für die Bürger sei dies aufwendiger und anspruchsvoller. "Es reicht dann nicht mehr aus, nur alle vier bis fünf Jahre einmal zur Parlamentswahl zu gehen und ansonsten politische Fragen zu delegieren." Die Bürger müssten Dinge in die eigene Hand nehmen, sich informieren, diskutieren und mitentscheiden. Aber auch die Rolle der Politiker verändere sich, sie müssten Macht abgeben.

"Ihre größere Wirkung entfalten Volksabstimmungen aber bereits allein durch die Möglichkeit, dass sie jederzeit stattfinden können." In der Schweiz sei zu besichtigen, dass Politiker die Interessen und Bedürfnisse der Bürger "weitaus intensiver" bedenken - allein schon, um korrigierende Volksabstimmungen zu vermeiden. "Der Ausbau der Bürgergesellschaft hat daher gute Chancen, der Verdrossenheit über Parteien und Politiker entgegenzuwirken", urteilen die Freiburger Wahlforscher.

Damit es dazu kommen kann, dürfe ein Abstimmungsquorum keine "schier unüberwindliche Hürde" sein. "Die im Raum stehende Senkung des Quorums auf 20 Prozent erscheint vor diesem Hintergrund durchaus angemessen." Zusammen damit müssten aber auch die "viel zu restriktiven Hürden für ein Bürgerbegehren drastisch gesenkt werden" - also für die Vorstufe, die zu einer Volksabstimmung führt. Die größten Vorbehalte gegen den Machtzuwachs der Bürger hätten konservative Wählerkeise und Teile der Verwaltungen, "die in verstärkten bürgerlichen Mitspracherechten einen Machtverlust sehen".