Vor 50 Jahren hat ein Fragebogen in der Schweiz Furore gemacht. Nun wird die Aktion wiederholt – mit einigen vielsagenden Ergebnissen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Wer ist ein guter Schweizer? Jemand, der erst um neun Uhr aufsteht, die Nationalhymne nicht mitsingt und keinen Militärdienst leistet? Ein guter Schweizer darf das alles! Die meisten Eidgenossen sind offenbar wesentlich toleranter, als ihnen gemeinhin nachgesagt wird. Das zumindest ist das Ergebnis einer landesweiten Volksbefragung.

 

Unter dem Namen „Point de Suisse“ haben Künstler und Wissenschaftler 1000 Eidgenossen einen Fragenkatalog vorgelegt und bisweilen Erstaunliches zu Tage gefördert. So würden fast 36 Prozent der Schweizer das Grounding der Swissair im Jahr 2001 gerne aus der Schweizer Geschichte streichen. Damals mussten alle Flugzeuge der finanziell ins Trudeln geratenen Fluglinie auf der ganzen Welt am Boden bleiben – eine Schmach, die noch heute viele Eidgenossen offensichtlich nicht überwunden haben.

Eine „soziale Skulptur“ soll geschaffen werden

Erst an zweiter Stelle der „Streich-Wünsche“ folgt die sehr umstrittene Flüchtlingspolitik des Landes während des Zweiten Weltkrieges – knapp über 32 Prozent würden dieses Kapitel gerne ungeschehen machen. Der Schweiz wird unter anderem vorgeworfen, viele Menschen, die vor der Verfolgung aus Nazideutschland flüchten mussten, an der Grenze abgewiesen zu haben. Immerhin 2,7 Prozent halten die Einführung des Stimmrechts für Frauen für einen historischen Fehler. Zum Nachdenken regt auch an, dass rund Dreiviertel der Befragten auf keinen Fall als Pfarrer arbeiten möchten. Damit ist dieser Beruf wesentlich unbeliebter als Börsenhändler (55,8 Prozent) oder Müllmann (44,7 Prozent). Andere Ergebnisse hingegen sind weniger erstaunlich. So lehnen etwa 85 Prozent der Befragten den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union ab. Und rund 90 Prozent der Eidgenossen halten ihr Land für ein Vorbild in Sachen Demokratie, Neutralität und Sauberkeit. Und: 75 Prozent der Schweizer sind glücklich.

Ziel der Umfrage ist allerdings nicht „eine Momentaufnahme und Analyse der aktuellen schweizerischen Volksbefindlichkeit“, lassen die Initiatoren wissen. Ihr Anspruch ist wesentlich größer. Geschaffen werden solle eine „soziale Skulptur“. Aus diesem Grund wollen sie sich nicht mit dem gezielten Befragen von 1000 Menschen begnügen. Sie haben alle Schweizer aufgefordert, in den nächsten Wochen an der Aktion teilzunehmen und die eigenen Ergebnisse mit den schon vorliegenden Resultaten der Umfrage zu vergleichen.

Die Macher der aktuellen Aktion wollen damit nachholen, was ihren Vorgängern vor 50 Jahren nicht geglückt ist: das Anstoßen einer öffentlichen Diskussion über den Ist-Zustand und die Zukunft der Schweiz.

Die „Gefährdung der Staatsräson“

Geschichte Die Idee ist 50 Jahre alt. 1964 fand in Lausanne die Schweizer Expo statt, und die Macher wollten mit einem kurzen Fragebogen einen kritischen Blick in die Seele der Eidgenossen werfen. Die Aktion war ein Renner: 580 000-mal wurde der Bogen ausgefüllt. Die Idee war dem Schweizer Bundesrat aber zu subversiv – er ließ alle Antworten schreddern. Der Grund: die Aktion gefährde die „Staatsräson“.

Neuauflage Das Projekt „Point de Suisse“ ist eine Neuauflage des alten Fragebogens – eine Kunstaktion mit wissenschaftlichem Unterbau. Initiatoren sind die Macher des Festivals de la Cité in Lausanne. Alle Fragen wurden übernommen, aber dem Zeitgeist angepasst. So werden die Probanden nicht zu ihrer Einstellung gegenüber dem Kommunismus gefragt, sondern nach ihrem Verhältnis zum Islam.