Bernardo Fingas, der einmal Bernd hieß und in Neuhausen auf den Fildern lebte, lehrt die Nachtschwärmer in Buenos Aires das Tanzen oder spielt auf seinem Bandoneon, das zum argentinischen Tango gehört wie die Tuba in die bayerische Blaskapelle.

Böblingen: Carola Stadtmüller (cas)

Neuhausen - In lauen Sommernächten dringen schwüle Luft und bedeutungsschwangere Klänge aus alten Stadtvillen auf die breiten Alleen der Millionenmetropole Buenos Aires. Unten auf den Baldosas flojas, den vielen losen Bodenplatten, flanieren die Bewohner der einst so reichen argentinischen Hauptstadt, bevor sie eintreten. Jeder Stein in dieser Stadt riecht nach verblasstem Ruhm. Aber die Porteños stört das nicht. Sie tanzen Tango. Und Bernardo Fingas, der einmal Bernd hieß und in Neuhausen auf den Fildern lebte, lehrt sie das Tanzen oder spielt auf seinem Bandoneon, das zum argentinischen Tango gehört wie die Tuba in die bayerische Blaskapelle.

 

„Haus, Freunde, Leben“, nennt Bernardo Fingas das, was er in Buenos Aires hat. Dass das fast alles ist, was einen Menschen ausmacht, fällt ihm gar nicht auf. „Ich bin ja wegen der Musik hier“, führt der 43-Jährige aus, der seit acht Jahren in Buenos Aires lebt. Schon lange Zeit zuvor ist er dem Tango argentino verfallen, als er zum ersten mal die Musik des Bandoneon-Musikers und Komponisten Astor Piazzolla hörte. Er folgte dem Rat eines Mannes, der es wissen musste, Alfredo Alderete, damals der Vorsitzende der deutschen Abteilung des Academica Nacional del Tango, den er in Stuttgart traf: „Wenn du wirklich Tango spielen willst, musst du nach Buenos Aires.“

Nach der ersten sechsmonatigen Reise und dem Ende seines Fotografiestudiums wurde Bernardo Fingas dann 2002 vorerst dauerhaft an die Ufer des Río de la Plata gespült. Damals war das Land durch eine extreme Rezession gelähmt. Der Peso wurde vom Dollar entkoppelt, die Argentinier konnten wochenlang kein Geld abheben: Der Handel auf den Straßen blühte, Zahnärzte boten ihre Dienste für Butter und Brot an. Sein Empfinden: „Ich glaube, das war eine Zeit, in der sich vor allem junge Leute auf die Musik ihrer Vorväter besonnen und darin eine ganz eigene und neue Kraft gefunden haben. Ich dachte: ,Wahnsinn, und ich bin da mittendrin‘.“

„Die fragen mich, warum ich hier bin“

Fingas nahm Unterricht bei den Besten seiner Zunft, arbeitete hart, um das schwer zu beherrschende Instrument virtuos zu spielen. „Es kam mir unendlich vor, was man alles lernen und wissen konnte.“ 2004 spielte er erstmals in einem Orchester, tauchte immer weiter ein in die Musik, in Land und Leute. „Auch wenn ich nicht mit diesem Land verheiratet bin, die Herzlichkeit hier ist mitreißend“, sagt Fingas – der immerhin mit einer Argentinierin liiert ist.

Fremd habe er sich in Buenos Aires eigentlich nie gefühlt. Aber die pure Anwesenheit des Deutschen versetzt die Porteños immer wieder in Staunen. „Die fragen mich, warum ich hier bin“, erzählt er. In Deutschland sei doch alles besser als in Argentinien, nicht nur die Straßen oder die Autos. „Man genießt als Deutscher hier Respekt“, sagt er. Fragen von Ablehnung oder Zugehörigkeit stellten sich ihm weniger aufgrund seiner Herkunft, denn aus anderen Gründen.

Keine Lust auf Pauschalkritik an den Deutschen

„Ich frage mich immer, was macht uns Menschen denn aus, wenn alles funktioniert, wenn wir eigentlich nur noch leben könnten“, philosophiert er. Vielleicht kann der Tango diese Frage beantworten? Kann oder muss man „nur noch Mensch“ sein, wenn alles erledigt ist? In Deutschland würden die Menschen oft auf ihre Funktionen reduziert. „Dabei ist ein Arzt oder ein Lehrer auch ein Mensch ganz ohne Funktion“, erklärt er. „Und ich habe das Gefühl, dass das menschlicher ist.“ Dennoch hat er keine Lust auf Pauschalkritiken wie: leidenschaftslose, gefühlskalte Deutsche ohne Herz. „Da will ich nicht einstimmen“, sagt er.

Natürlich vermisse er Deutschland manchmal, die sprichwörtliche Zuverlässigkeit sei für einen Musiker, – inzwischen erfolgreich als Teil des Duos „La Biandunga“ – Tango- und Tanzlehrer nicht ganz unwichtig. Übrigens: im Sommer ist eine Deutschlandtour geplant.

Senf und Sauerteigbrot

Was ihm an Gaumenfreuden fehlt, stellt er selbst her: Senf und Sauerteigbrot. „Und gerade restauriere ich meine Terrasse. Mein Nachbar sagte: ,Du musst einfach einen Eimer Zement nehmen.‘ Gut, dachte ich, mach ich. Man kann so vieles, von dem man dachte, man könne es nicht, nur weil man es nie zuvor brauchte.“

„Meine Mama hat resigniert“, lautet seine Antwort auf die Frage, ob er denn wieder an die Ufer des Neckars gespült werde. Er selbst ist sich da allerdings nicht ganz so sicher. „Aber ich muss noch nicht an die Rente denken, ich muss das heute nicht entscheiden.“ Wer zu viel plane, sei nur enttäuscht, wenn es anders komme. „Vielleicht ist es doch das Beste, das Leben zu leben.“ Ohne den Bewohnern der Region zu nahe treten zu wollen: diese Worte klingen eher nach argentinischem Lebensgefühl denn nach Filderromantik.

Dieser Text ist ein Teil einer großen Serie über Auswanderer aus der Region Stuttgart.