Als die Stuttgarter Juristin Aysan Lazemi im Jahr 2010 nach Teheran zieht, erntet sie nur Erstaunen und Entsetzen von ihren Freunden und Bekannten. Zu Besuch in einem Land, über das man hier genau Bescheid zu wissen glaubt.

Stuttgart/Teheran - Es sind keine fünf Minuten vergangen, da lässt Aysan Lazemi ihr grünes Kopftuch in den Nacken rutschen. Da wird es auch bleiben: Locker auf den Schultern liegend, passend zum Blumenmuster der sommerlichen Tunika. Mit beiden Händen fährt sich die 32-Jährige durch ihre langen dunklen Haare und richtet den Zopf. Hier, hinter der verschlossenen Tür des Konferenzraums in der deutsch-iranischen Industrie- und Handelskammer in Teheran, kann Lazemi die Bekleidungsregeln lockerer auslegen.

 

Zwei Zimmer weiter, in ihrem Büro, in dem sie die Rechtsabteilung der Kammer leitet und Visumsanträge bearbeitet, herrscht reger Publikumsverkehr. Dort hat sie den Spielraum nicht. Zwar sieht man heute in der Islamischen Republik manches liberaler, aber nicht den Kopftuchzwang für Frauen. Auch wenn ihn viele Iranerinnen mit durchsichtigen Stoffen herausfordern, die sie – die Gesetze der Schwerkraft ignorierend – raffiniert am Hinterkopf feststecken: Wer in der Öffentlichkeit ohne erwischt wird, kommt aufs Revier. Öffentlichkeit heißt: überall dort, wo Frauen auf Männer treffen können, die nicht ihrem engsten Familienkreis angehören. Um 11 Uhr ist es selbst hier, am Fuße des Alborzgebirges im Norden Teherans, mehr als 40 Grad heiß. Sie beneidet die Mitarbeiter der Deutschen Botschaft unten in der Stadt. „Die Frauen laufen da in luftigen Kleidchen herum.“ Lazemi kann sich allenfalls die Ärmel ihrer Tunika bis zu den Ellenbogen hochkrempeln.

Doch wie aussagekräftig ist die Kleiderfrage, um den Iran von heute zu verstehen? Für Deutsche sei das ein Riesenthema, sagt Lazemi. Für Iranerinnen dagegen weniger. „Es ist halt so.“ Niemand habe sie gezwungen, hierherzuziehen. Sie wusste, worauf sie sich einließ. Lazemis Mutter vertritt eine andere Sicht, richtet den Blick auf die Iranerinnen, die keine Wahl haben. „Wenn du das Kopftuch so toll findest, warum trägst du es dann nicht auch in Deutschland?“, hat sie ihre Tochter neulich gefragt.

Mitte der 70er Jahre, während der Schah-Zeit, kamen ihre Eltern zum Studium aus dem Iran nach Deutschland. Seit fast 30 Jahren leben sie in Stuttgart und denken nicht daran, wieder in ihre alte Heimat zurückzuziehen. Dafür hat Tochter Aysan den Entschluss getroffen, nach Teheran zu gehen. Im Sommer 2010.

Sie, was sie mit ihrem Leben anfängt

Ein Jahr zuvor hat der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad die Wahlen zu seinen Gunsten manipuliert. Die Bilder der Proteste gehen um die Welt. Auch die der Gewalt, mit der das Regime die Proteste niederknüppelt. Lazemi hat in Stuttgart ihr zweites Jura-Examen abgelegt und ist 28. Sie überlegt, was sie mit ihrem Leben anfängt. Anwältin in einer Kanzlei will sie nicht werden. Lieber in die Rechtsabteilung eines großen Unternehmens und die Option, ins Ausland zu gehen: Amerika, Brasilien, China. Jedes Land ist ihr recht, der Iran spielt in ihren Planungen keine Rolle.

Mitte 20 verliebt sie sich in einen Iraner, einen entfernten Verwandten, den sie über eine Freundin in Portugal kennengelernt hat. Soll er nun nach Deutschland kommen? Das würde ein langwieriges Visumsverfahren bedeuten. Zudem hat ihr Freund in Teheran gerade das Unternehmen seines Vaters übernommen. „Ich habe beide Pässe, für mich ist es einfacher zu gehen“, sagt sie. Ein Entschluss mit Vorbehalt. Sie kennt ihren Freund nur von einem längeren Urlaub und Wochenendtrips. „Lerne ihn erst mal kennen. Und schau erst mal, ob du dort leben kannst“, rät ihr Vater.

Nicht nur ihren damaligen Freund, auch den Iran kennt Aysan Lazemi kaum. Als Schulkind war sie ein paar Mal dort und hat das Land in herzlich schlechter Erinnerung: Endlose Verwandtenbesuche, bei denen nur geredet und Tee getrunken wird. Wie langweilig. Teherans Gluthitze im August. Mittagsschlaf statt Freibad. Treffen mit Jungs, die nicht ihre Verwandten sind? Unmöglich. Im Fernsehen: Ödnis. Talkrunden mit Mullahs, und – Gott sei Dank – wenigstens RTL und RTL2. Aber auch die trösten nicht darüber hinweg, dass das doch keine Sommerferien sind. Mit 15 Jahren meutern Aysan und ihr kleiner Bruder. „Wir wollen ins Waldheim!“

Das spannende Land

Es vergehen zehn Jahre, bis sie erneut nach Teheran kommt. 2007 heiratet eine Cousine. Aysan Lazemi ist 25 Jahre alt. Wider Erwarten ist die Feier eine Wucht: Tanz und Musik bis spät in die Nacht, Glitzer und Glamour. Bislang war sie nur auf deutschen Hochzeiten gewesen. Auch schön. Aber für ihren Geschmack sitzt man dort zu viel. „Mama“, sagt sie, „wenn ich mal heirate, dann im Iran. Auch wenn es ein Deutscher ist.“ Nach der Feier reisen die Lazemis quer durchs Land. „So viel Kultur und Natur!“ Der langweilige Iran ihrer Kindheit erscheint ihr auf einmal total spannend. Hat sie sich verändert? Oder das Land?

Ende August 2010 fliegt Aysan Lazemi nicht nur für ein Wochenende nach Teheran. Für wie lange, weiß sie nicht. Ihr Gepäck besteht aus einem Koffer. Es ist noch unklar, ob sie und ihr Freund heiraten. Ihre Referendarswohnung im Stuttgarter Westen hat sie vorsorglich nicht gekündigt. Fest steht nur: Sie will in jedem Fall arbeiten. Und nicht irgendwas: „Ich habe nicht umsonst studiert.“ Paradoxerweise erleichtert ihr die Politik des ultrakonservativen Ex-Präsidenten Ahmadinedschad nun den Einstieg in den iranischen Arbeitsmarkt: Wegen der Krise, die seine Wirtschaftspolitik angerichtet hat, sind viele Familien auf ein zweites Gehalt angewiesen. Arbeitende Frauen sind im Iran mittlerweile normal.

Die Verwandtschaft freut sich riesig über den Zuzug aus Deutschland. Sie sagen aber auch: „Mann, bist du blöd. Wir wollen alle weg – und du kommst!“ Freunde aus Tübingen finden noch deutlichere Worte: Wie könne sie, eine moderne junge Frau, freiwillig in ein Land gehen, in dem Frauen unterdrückt werden. Andere sagen: „Toll, wie mutig von dir!“ Was denn daran mutiger sei, in den Iran zu gehen, als etwa nach Amerika oder nach Brasilien, fragt sie zurück. Na, im Iran gebe es doch die Taliban.

Im November 2012 heiratet Aysan Lazemi. Manchen Gästen aus Deutschland passt es zeitlich nicht, anderen ist die Anreise zu weit. Eine Handvoll sagt aus Furcht ab. „Du musst verstehen, wir haben Familie.“ Sie habe das akzeptiert, sagt Lazemi heute. Damals habe sie schon schlucken müssen, als sie die Bemerkungen mit den Taliban hörte. Ohne Zweifel: Der Iran ist kein Rechtsstaat. Laut Amnesty International wurden dort allein im Jahr 2012 mehr als 500 Todesurteile vollstreckt. Wer politisch aufmuckt, kommt schnell ins Gefängnis. Aber hat das westliche Urlauber bislang abgehalten, in Ägypten, China oder anderen Autokratien zu urlauben? „Man muss genau hinschauen.“ Im Iran herrschen nicht die Taliban. Das Land befindet sich nicht im Krieg. Und die in schwarze Tschadors gehüllten Frauen der Sittenpolizei halten sich auf Teherans Straßen zurück: „In den vier Jahren, die ich hier lebe, habe ich sie zumindest nie gesehen“, sagt Aysan Lazemi.

Ein Blumenstrauß für das Visum

Ihr Bild vom Iran heute: „Total abwechslungsreich! Unmöglich, sich hier zu langweilen!“ Sie liebt die Freundlichkeit der Menschen und ihre Arbeit in der Kammer, an der Schnittstelle der Wirtschaft zweier Kulturen. Manchmal ist das aufreibend. Etwa, wenn iranische Unternehmer beharren, dass diese oder jene Vorschrift nicht so streng auszulegen sei, Lazemi sich aber nicht aufs Handeln einlässt. „Dann beschweren sie sich, ich sei unhöflich und möchten meinen Chef sprechen. Und der kommt dann und wiederholt ihnen, dass die Vorschrift tatsächlich genauso gilt, wie ich es gesagt habe.“ Bestechungsversuche, wie der eines Unternehmers, der ihr einen Blick auf die Goldmünzen in seiner Tasche gewährte, seien selten. Öfter dagegen gebe es ein kleines Geschenk nach Abschluss eines Auftrags. Einen Strauß Blumen – einfach nur, weil sich der Antragsteller über das Visum freut. Vieles laufe im Iran langsamer als in Deutschland, vieles weniger durchdacht. Aber vieles auch herzlicher.

Die islamisch geprägte Gesetzgebung untersagt Tanzvergnügen sowie Singen in der Öffentlichkeit. Alkohol sowieso. Also alles Notwendige fürs Nachtleben. Dass sie seit vier Jahren nicht mehr in Kneipen gehen kann, stört Lazemi, anders als die Mehrheit der Iraner, aber kaum. „Ich konnte mich in Deutschland ja 28 Jahre lang austoben.“ Außerdem: „Alles, was offiziell verboten ist, kann man privat organisieren.“ Allerdings nur unter einer Voraussetzung: Man muss es sich leisten können. Ja, räumt Lazemi ein, sie wisse, dass ihr Bild vom Iran in vielem von dem des Durchschnittsiraners abweiche. Sie ist eine gut ausgebildete junge Frau aus der oberen Mittelschicht und – ganz wichtig – im Besitz zweier Pässe. Außerhalb des Irans gilt sie als Deutsche. Sie kann jederzeit ausreisen. Für die meisten ihrer Landsleute ist es sehr schwer, ein Visum zu bekommen.

Was, wenn ihr Freund nicht im liberalen Teheran gewohnt hätte, wo man sich bequem seine private Nische einrichten kann? Wäre Aysan Lazemi auch nach Isfahan oder Shiraz, ebenfalls Millionenstädte, gezogen? „Nein“, sagt sie ohne Zögern. Dort sei das Klima wesentlich konservativer. Gar nicht zu reden von Städten wie Ghom oder Mashad, den Zentren der iranischen Geistlichkeit. Eine Reise dorthin – gerne. Aber dort leben – niemals.

Ihre Kinder, sagt Aysan Lazemi, sollen nicht im Iran aufwachsen. Die Bildungsmöglichkeiten in Deutschland sind besser. Sie möchte, dass ihre Kinder die gleichen Chancen bekommen wie sie selbst. Gesünder ist es außerdem. Im Winter kann man den Teheraner Smog kaum aushalten. Da ist sogar der Stuttgarter Talkessel sauberer. „Und es mag banal klingen, aber ich will, dass meine Kinder so aufwachsen, dass sie im Sommer einfach ins Freibad gehen können. Auch mit den Jungs aus der Clique.“ Dieses Vergnügen wird im Iran, trotz der Liberalisierung der vergangenen Jahre, auch in Zukunft wohl unmöglich bleiben.