Von einer Löwentaufe mit Folgen, einem waffenscheinpflichti­gen Aquarium und davon, wie die Stuttgarter erst durch einen Schwabenstreich zu ihrem Zoo gekommen sind: Ein StZ-Artikel aus den 1970er erzählt die Geschichte der Wilhelma.

Stuttgart - Von einer Löwentaufe mit Folgen, einem waffenscheinpflichtigen Aquarium und davon, wie die Stuttgarter durch einen Schwabenstreich zu ihrem Zoo kamen – darüber hat Georg Kleemannn in seinem StZ-Artikel vom 6. März 1970 berichtet. Anlass war die Verabschiedung des damaligen Zoo-Direktors Albert Schöchle in den Ruhestand.

 

Ende März 1970 verlässt ein Mann, dem die Stuttgarter dankbar sein müssten, das wichtigste Podest seines Wirkens. Albert Schöchle, der barocke Gründer des neuen Stuttgarter Tiergartens, geht in den Ruhestand. Mit ihm tritt ein Teil der vielzitierten ersten Stunde ab, der das Chaos der ersten Nachkriegsjahre meisterhaft überwunden hat. Ohne Schöchle hätte Stuttgart keinen Zoo. Das ist ein unbestreitbares Faktum, weil wir nämlich im Stuttgart im Jahr 1945 andere Sorgen hatten, als einen Tiergarten zu bauen. Auch Schöchle hatte zunächst andere Sorgen.

Wie die Wilhelma wurde, was sie ist

Die Geschichtswerkstatt der StZ und des Stadtarchivs Foto: StZ
Schon seit 1933 hatte der gelernte Gärtner, der sich nahezu im Selbststudium bis zur zweiten Staatsprüfung vorgearbeitet hat, den botanischen Garten Wilhelma geleitet. Und als er aus dem Krieg zurückkam, pflanzte er zunächst einmal Gemüse für die Stuttgarter Krankenhäuser auf den ehedem so berühmten Blumenbeeten der Wilhelma, und dieses Idyll endete erst, als 1948 die Währungsreform kam, als der freie Markt in Schwung kam und als der zerstörte botanische Garten wieder dem Publikum dienen sollte.

Wilhelma lag in Trümmern

Doch dieses Publikum strömte in den Jahren nach der Währungsreform lieber auf den Killesberg als in die Wilhelma. Vergessen war, dass die Wilhelma auf der letzten Reichsgartenschau vor dem Krieg mehr Medaillen für ihre Pflanzen eingeheimst hatte, als alle übrigen staatlichen und städtischen Gärten im damals noch großen deutschen Reich. Auf dem Killesberg, wo die Stadt schon wieder Bundesgartenschauen vorbereitete, war nach dem Krieg der Garten, den die Stuttgarter suchten – in der Wilhelma waren nur Trümmer und ein paar botanische Raritäten für Liebhaber.

In dieser Konkurrenzsituation begann Albert Schöchle zu wirbeln. Zuerst erinnerte er sich an das Interesse, das ein gegen alle Vorschriften der Elektroindustrie gebautes Guppy-Aquarium seines Sohnes bei den Cannstatter Buben gefunden hatte. Die Gefahr nicht achtend, die die waffenscheinpflichtige Heizanlage in sich barg, deren Stecker vom Bügeleisen der Frau Schöchle stammte, waren sie in Scharen herbeigeströmt, um die Fischlein zu bestaunen und über ähnliche Selbstbau-Aquarien zu diskutieren. Und also veranstaltete Schöchle senior im Jahr 1949 in der Wilhelma eine Aquarienausstellung.

Die ersten Tiere im Zoo

So arg viel traute er dieser Ausstellung freilich nicht zu. Deshalb baute er sie den Aquarianern zwar auf, doch am Tage der Eröffnung fuhr er auf die Alb, und als er am Abend heimkam und auf der König-Karls-Brücke Menschenmassen strömen sah, da sagte er zu seiner Frau: „Siehst Du, die kommen alle aus der Wilhelma!“ Frauen aber sind dem Ehemann gegenüber zumeist kritisch, deshalb sagte Frau Schöchle auch: „Das könnte Dir so passen!“ Doch es passte wirklich: Die Leute kamen aus der Wilhelma, 15 000 Stuttgarter und Ländlesbewohner hatten an diesem Sonntag die Fische angeguckt.

Und von da an veranstaltete er weitere Einzelschauen. Zuerst zusammen mit dem Museum für Naturkunde eine Darstellung der Verwandlung der Pflanzen in den vergangenen 500 Millionen Jahre. Doch das wollten nur naturbeflissene Geschmäckler sehen, die die Grünen im Lande, die fossilienbeflissenen Grubler, und das gibt auch bei uns nicht die Masse der für die Wilhelma nötigen Völkerscharen. Also begann er wieder mit Viechern: Eine Vogelausstellung folgte – am Ende kaufte Schöchle den Ausstellern die Vögel ab. Nächstes Thema: „Die Tiere des deutschen Märchens.“ Im Märchen kommen Wölfe, Bären und Löwen vor – und am Ende kaufte Schöchle den Ausstellern die Tiere ab. Und nun, wieder mit dem Naturkundemuseum: „Schlangen, Saurier und Krokodile“ – am Ende kaufte Schöchle den Ausstellern die Tiere ab.

Der Gärtner wird Tiergartendirektor

Man kann sich denken, dass solches Tun eines Gärtners bei der Obrigkeit, der er hörig ist, nicht allzu viel Zuneigung auslöst. Zudem trat Schöchle jetzt auch schon mit dem Flair eines Tiergartendirektors auf, und davon stand nirgends etwas in den Wilhelmsstatuten, die ja ein ehrsamer botanischer Garten zu sein und zu bleiben hatte, wie man höheren Orts alsbald verfügte. Dieser Gartenbaudirektor, der da ständig vom „Stuttgarter Zoo“ sprach, der seine Kompetenzen mit jedem Schritt, den er tat, auch schon übertrat, der da polternd für seinen Haushaltsplan focht, in dem Futter für irgendwelche seltsamen Tiere aufgeführt war, der da mit Schlichen eine hohe Oberfinanzdirektion und gar das Finanzministerium hereinlegte, wie es noch nie geschehen war in der württembergischen Beamtengeschichte, diesem plötzlich viechsnarrischen Gewaltmenschen musste ein Dämpfer verpasst werden!

Und in klarer Erkenntnis dessen, was ein botanischer Garten braucht, was die Großstadt Stuttgart braucht und was die Öffentlichkeit nun, da es ihr geboten worden war, schon stürmisch begehrte, befand ein Schöchle Vorgesetzter schriftlich: „Die wilden Tiere haben aus der Wilhelma zu verschwinden.“ Jetzt war Dreck Trumpf. Zwar weiß ein alter Beamter, dass auf dem Instanzweg fast alles noch umzubiegen ist, und außerdem war ja auch noch die öffentliche und in diesem Fall nicht schlecht beratene Meinung da, doch Schöchle vertraute seinen genialen Lausbubeneinfällen mehr als seinem wohlgeölten Instrumentarium der Pro-Zoo-Propaganda. Und so lud er denn einen eben neu gewählten Finanzminister des Landes zur Löwentaufe in die Wilhelma ein. Eine der missliebigen Löwendamen hatte ihm nämlich gerade den Gefallen getan, Junge zu bekommen. Und die mussten natürlich getauft werden.

Löwentaufe mit Pfiff

Am besten von einem neu gewählten, sich der Kundschaft empfehlenden Minister. Doch wie tauft man Löwen? Der Minister wandte sich an den in Wahrheit darin ebenso unerfahrenen Halbtiergartendirektor Schöchle, und der sagte ihm gleich ein wunderbares Sprüchlein vor, das jeden Zirkusdirektor vor Ehrfurcht erschauern ließ. Der Höhepunkt war: „Und wünsche ich, dass diese Löwenkinder die Stamm-Mütter eines kräftigen Löwengeschlechts in der Wilhelma sein werden!“ Und also sprach der oberste Chef des Instituts, der Finanzminister, als er die Löwen mit Mineralwasser bespritzte. Die Ministerialbeamten rings um ihn schnappten nach Cannstatter Luft und bekamen Hustenanfälle, Albert Schöchle blinzelte ein bisschen, und der Minister ging hochzufrieden nach Hause. Das konnte er ja auch, denn er hatte gerade den Stuttgarter Tiergarten gerettet. Obwohl er’s nicht wusste.

Der nächste Schritt war nun unabwendbar geworden: Wenn die Tiere schon dableiben mussten, dann brauchten sie anständige Unterkünfte. Es begann das Zeitalter der großen Zooplanung und einiger Redeschlachten im Landtag, dessen Mitglieder nun schon einsahen, dass die menschliche Kultur viele Facetten hat. Und bald wuchs, mit Hilfe vieler Freunde, im Rosenstein und in der Wilhelma das aus dem Boden, was man einen modernen Zoo nennt: Allein das schon vor Jahren eingeweihte Aquarium ist heute (1970) noch das modernste Binnenaquarium der Welt! Albert Schöchle, dieser noch heute ungestüme Motor, der sich jetzt ganz dem Blühenden Barock in Ludwigsburg widmen wird, gesteht selber, dass er den Widerstand gegen sein Lebenswerk am meisten zu verdanken hatte.

Erfolge in der fernsehlosen Vor-Grzimek-Zeit

Ein jeder Missgriff in den ersten Jahren wäre das Ende der Tiergartenidee gewesen. Hier durfte kein Löwe ausbrechen, kein Kind gebissen werden, kein Schwund in der Kasse eintreten. Dieses Experiment hatte keine Schonzeit, weil zu viele Leute im Hintergrund darauf lauerten, der Wilhelma kurz und schmerzlos den Subventionshahn abzudrehen. Man muss bedenken, es war die fernsehlose Vor-Grzimek-Zeit, es war noch nicht selbstverständlich, dass Ballungsräume von Millionen Menschen in ihrer Mitte einen Tiergarten haben, wo der Mensch der Natur begegnen kann, und noch nicht einmal die traurige Tatsache, dass die Tiergärten heute die einzigen Stätten sind, in denen aussterbende Tierarten bewahrt werden, gehörte zum allgemeinen Wissen. Und vor allem hatten die Menschen genug Tagessorgen und rauften zunächst um ihr eigenes Überleben! Albert Schöchle hinterlässt das, was man ein Lebenswerk nennt. Der dritte Stuttgarter Tiergarten wird stets mit seinem Namen verbunden sein.

Aktuelle Informationen und Bilderstrecken aus der Stuttgarter Wilhelma finden Sie auch auf unserer Themenseite zum Zoo.

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