Beim Wort Solitude bekommen auch heute noch viele Motorsportfans leuchtende Augen. Von Beginn des 20. Jahrhunderts an pilgerten Hunderttausende von ihnen Jahr für Jahr zur Rennstrecke vor den Toren Stuttgarts. 1966 wurde das Rennen nicht mehr genehmigt – und die Solitude wurde zur Legende.

Stuttgart - Beim Wort Solitude bekommen auch heute noch viele Motorsportfans leuchtende Augen. Von Beginn des 20. Jahrhunderts an pilgerten Hunderttausende von ihnen Jahr für Jahr zur Rennstrecke vor den Toren Stuttgarts. In den 60ern wurde sie aus Sicherheitsgründen dann stillgelegt. In der Stuttgarter Zeitung erinnerte sich StZ-Autor Hans Kilgus damals an die legendären Solituderennen:

 

„Man schrieb das Jahr 1904 und in Stuttgart wurde das zweite Solituderennen ausgetragen. Veranstaltet vom „Stuttgarter Motorradfahrerverein“, führte es vom Westbahnhof hinauf zum Schloss Solitude. Es war allerdings eher ein Zwischending aus einem Motorrad- und einem Fahrradrennen, denn um die Steilstrecke zwischen Westbahnhof und Bismarck-Eiche zu überwinden, mussten die Akteure ihre Fahrräder mit Hilfsmotor zusätzlich durch Muskelkraft unterstützen und tüchtig in die Pedale treten. Dass dennoch kein Vertreter des sogenannten „starken Geschlechts“, sondern eine Frau, nämlich Mariechen Reuschel aus Berlin, den Sieg davontrug, war eine der Sensationen dieses Solituderennens. „Sie war ein überaus reizendes, zierliches Persönchen“, erinnert sich ein Zeitgenosse an das erste weibliche Mitglied im ADAC.

Auch 1906 stand wieder eine Frau auf dem Siegerpodest des Solituderennens, das jetzt vom Schützenhaus in Heslach hinauf zum Schloss ging: Dr. Gertrude Eisemann aus Hamburg. Sie war damals eine echte Attraktion, startete sie doch in braunen, enganliegenden Samthöschen, die für damalige Zeiten äußerst sexy waren.

Schon 1924 mehr als 200.000 Zuschauer

Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte das Solituderennen, das nach wie vor ein Bergrennen war und jetzt von Heslach aus an der Wildparkstation vorbei zum Schloss führte, einen ungeahnten Popularitätsaufschwung. 1923 kamen bereits 100.000 Zuschauer, die 350 Fahrer in Aktion sahen. Auf der Ehrentribüne saßen der damalige Staatspräsident Hieber und Stuttgarts Oberbürgermeister Karl Lautenschlager.

Im Jahr darauf säumten gar 200.000 Fans die Piste, die noch nicht einmal asphaltiert war. Eine selbst für heutige Begriffe fast unvorstellbare Zahl. Im Oktober 1924 wurde schließlich die Solitude-Rennen GmbH gegründet, eine Gesellschaft, die fortan die Geschicke der inzwischen weit über die Grenzen Württembergs hinaus bekannten Motorsportveranstaltung lenken sollte.

Als erstes ging die GmbH auf die Suche nach einem Rundkurs. Man entschied sich schließlich für eine 22,5 km lange Strecke mit Start und Ziel beim Schloss Solitude: Der Solitude-Ring war geboren. Doch der Kurs war, das zeigte sich schon bald, zu lang. Nur ein Bruchteil der Zuschauer konnte jeweils abkassiert werden, und die Instandhaltung der Straßen, für die die GmbH zuständig war, verschlang enorme Summen. So war die Solitude-Rennen GmbH trotz aller Bemühungen bald am Ende ihrer finanziellen Kräfte angelangt: 1931 warf man endgültig das Handtuch. Inzwischen war nämlich auch droben im Norden, in der Eifel, ein weiterer Ring, der Nürburgring, gebaut worden. Und der lief dem Solitude-Ring immer mehr den Rang ab.

Kurze Blütezeit im „Dritten Reich“

Mit dem „Dritten Reich“ brach jedoch für das Solitude-Rennen noch einmal eine kurze Blütezeit an. Auf einem neuen, 11,7 Kilometer langen Rundkurs, der in seiner Streckenführung identisch war mit dem, was man auch noch später unter dem Solitude-Ring versteht, heulten 1935 wieder die Motoren. Die Zuschauer und die Größen der NSDAP kamen in hellen Scharen; die einen, um ihre Idole wie Hermann Lang, Stanley Woods, Arthur Geiss, Walfried Winkler, Hans Schumann, Ewald Kluge, Otto Ley oder Wilhelm Herz zu sehen, die anderen, um gesehen zu werden. Dann war Krieg, und niemand interessierte sich vorläufig mehr für Auto- oder Motorradrennen.

Doch kaum war der Krieg zu Ende, regten sich auch die Motorsportler wieder. Und schon 1949 war die Solitude wieder Wallfahrtsort für 330.000 begeisterte Zuschauer. Das erste Nachkriegsrennen vor den Toren der schwäbischen Metropole wurde zu einem Volksfest ohnegleichen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag wurde in Stuttgart die Polizeistunde aufgehoben, überall spielten Tanzkapellen, und um Mitternacht zischten Feuerwerkskörper in den Himmel. Ein Augenzeuge: „Es war wie beim Karneval in Rio.“ Tags darauf siegte Karl Kling auf Veritas bei den Sportwagen, im Rennen der Formel II kamen nur zwei Fahrer ins Ziel: Toni Ulmen vor Egon Brütsch. Zu denen, die vorzeitig aufgeben mussten, gehörten auch „Bergkönig“ Hans Stuck und Lokalmatador Hermann Lang.

Unter den Massen brach die Tribüne ein

1951 wurde das Solituderennen erstmals wieder international ausgeschrieben. Fahrer aus 13 Nationen gaben ihre Nennung ab, und die Zuschauer strömten in unvorstellbaren Massen herbei: 400.000 Zuschauer schätzte die Polizei, wahrscheinlich waren es sogar noch mehr. Kein Wunder, dass unter dem Andrang der Fans eine Tribüne einstürzte. Als sich die begeisterten Zuschauer erhoben, um H. P. Müller, den Sieger in der 125-ccm-Klasse, zu feiern, gab das Gebälk der C-Tribüne ausgangs der Glemseck-Kurve plötzlich nach und begrub mehrere hundert Zuschauer unter sich. Einige wurden dabei verletzt.

H. P. Müller aber blieb in jenem Jahr der einzige deutsche Sieger. Ansonsten hatten mit dem Italiener Lorenzetti (Moto Guzzi) in der 250-ccm-Klasse sowie dem Engländer Geoffrey Duke (Gilera) in der 350- und 500-ccm-Kategorie zwei Ausländer die Nase vorne.

1954 schließlich meldete das Solituderennen einen neuen, zuvor und hernach niemals wieder erreichten Zuschauerrekord: 435.000 Besucher säumten die Piste bei Start und Ziel, am Frauenkreuz; im Schatten und im Mahdental, um nur die markantesten Punkte zu nennen. Sie sahen Weltmeisterschaftsläufe in allen Motorradklassen und konnten populäre Sieger bejubeln: in der 125-ccm-Klasse den jungen Österreicher Rupert Hollaus (NSU), in der 250-ccm-Klasse den dreifachen Weltmeister Werner Haas (NSU) aus Augsburg, dessen Stern am Rennfahrerhimmel zwei Jahre zuvor über der Solitude aufgegangen war, in der 350-ccm-Klasse den Rhodesier Ray Amm (Norton) und in der Halbliter-Kategorie schließlich Weltmeister Geoff Duke (Gilera). Bei den Gespannen siegte das deutsche Team Noll/Cron auf BMW.

1965 kam das Aus – aus Sicherheitsgründen

Auch danach wurden auf der Solitude noch viele große Rennen ausgetragen, konnten Hunderttausende von Zuschauern die Fahrkünste so berühmter Piloten wie Jack Brabham, Jim Clark, John Surtees, Graham Hill, Joakim Bönnieg, Dan Gurney, Stirling Moss, Graf Berghe von Trips, Gerhard Mitter oder Hans Herrmann bewundern. Fast immer lag die Zuschauerzahl weit jenseits der 200.000er-Grenze.

Dennoch schlug 1965 die letzte Stunde für das Solituderennen vor den Toren Stuttgarts. Mit der Begründung, die Sicherheitsanforderungen seien nach den neuesten Bestimmungen nicht mehr ausreichend, überdies gäbe es keine genügende Anzahl von Sicherheitszonen, wurde das Rennen für 1966 vom Innenministerium des Landes Baden-Württemberg nicht mehr genehmigt.

Zwar versuchte der Motorsportclub Stuttgart die Solitude-Tradition mit einem gleichnamigen Rennen in Hockenheim später wieder aufleben zu lassen, doch war diesem Abklatsch nur ein bescheidener Erfolg beschieden.

Wer weiß, vielleicht würde der Große Preis von Deutschland nicht in Hockenheim, sondern auf der Solitude ausgetragen, wäre diese traditionsreiche Rennstrecke 1965 nicht stillgelegt, sondern weiter ausgebaut und den Sicherheitsbestimmungen angepasst worden. Reizvoller und fahrerisch anspruchsvoller als der Hockenheimring wäre sie allemal.“

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