Vor hundert Jahren öffnete feierlich die neue „Nahrungsmittelbörse“ in Stuttgart. Im Zweiten Weltkrieg ziemlich zerstört, in den Siebzigern fast abgerissen, hat die Markthalle die Zeitläufte doch überdauert. Ein Rückblick samt Bildern aus der StZ-Geschichtswerkstatt.

Stuttgart - Als Karl Lautenschlager am 31. Januar 1914 bei der Eröffnung der neuen Markthalle ans Rednerpult tritt, wird er plötzlich sentimental: „Wieder ist ein Stück Alt-Stuttgart dahin: das Marktleben mit seinem malerischen Reiz, seinen oft etwas derben, aber doch bodenständigen Äußerungen des Volksgemüts.“ Die Eröffnung des monumentalen Gebäudes mit seiner 18 Meter hohen Stahlkonstruktion unter dem atemberaubenden Glasdach hat sich dem Stadtoberhaupt auf das Gemüt gelegt. 1,8 Millionen Reichsmark kostet dieser stattliche Neubau, ist zeitgerecht fertig geworden und innerhalb des Voranschlags geblieben. In den Annalen ist das ausdrücklich vermerkt.

 

Die StZ-Geschichtswerkstatt Foto: StZ
Von nun an gilt an der Dorotheenstraße diese ungewohnt strenge Hausordnung: „Das Ausspucken auf den Boden ist verboten, ebenso jedes Schreien, Lärmen, Singen, Pfeifen, Musizieren sowie sonstige Ruhestörung.“ Strikt untersagt ist zudem „das laute Ausrufen von Waren sowie das zweckfreie Herumtreiben von Personen“. Nicht von ungefähr hat man die zu klein geratene Markthalle von 1864 abgerissen und eine „Nahrungsmittelbörse“, so ihr offizieller Titel, an ihre Stelle gesetzt. 425 Händler finden darin, dicht gedrängt, Platz für sich und ihre Angebote. Nicht mehr die direkten Erzeuger der vielfältigsten Waren kommen dreimal die Woche in die Markthalle und unter ihre Arkaden im Freien, künftig darf an sechs Wochentagen verkauft werden, was die hauptberuflichen Händler bei ihren bodenständigen Erzeugern und gewitzten Lieferanten beschaffen können.

Am Ende seiner Rede vor den Honoratioren, an der Spitze Herzog Albrecht von Württemberg als Vertreter des Königs, fängt sich das Stadtoberhaupt Lautenschlager wieder, dankt dem benachbarten Haus Breuninger und diversen Bürgern für ihre Spenden und König Wilhelm II. für die rege Anteilnahme an der glückhaften Entwicklung seiner Residenz. Angesichts der Musik und der Fahnen, der erhabenen Stunde und all dieser schönen Worte kann der Chronist des „Stuttgarter Neuen Tagblatts“ nicht mehr an sich halten. Er schreibt in seinem Bericht, der am 2. Februar 1914 erscheint: „Mit unerwartet starker Echowirkung erklang das ,Hoch!‘ der Versammlung auf den König.“

Vorbild waren die weltberühmten „Les Halles“ in Paris

Eine kurze Rückblende. Wilhelm I. von Württemberg ist es, der 1863, knapp fünfzig Jahre zuvor, den Auftrag erteilt, zwischen Rathaus und Altem Schloss eine Markthalle zu errichten, natürlich nach dem Vorbild der weltberühmten „Les Halles“ in Paris. Wenn schon, denn schon. Die schwäbische Variante gerät zwar einige Nummern kleiner als die an der Seine, hat aber immerhin vierzig mal vierzig Meter Grundfläche, obendrüber ein gläsernes Dach. Und wichtig für die Stadtväter: der König bezahlt den Bau aus seiner privaten Schatulle. Es ist sein letztes Geschenk an Stuttgart, denn Wilhelm I. stirbt 1864, er erlebt die Eröffnung nicht mehr.

Mit dem Wachsen der Großstadt – zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Stuttgart an die 170 000 Einwohner – taugt diese Markthalle nicht mehr, Schwitzwasser löst heftige Korrosion aus, der Stadtrat sinnt auf Abhilfe. Die Debatte zieht sich bis 1910, dann wird ein Architektenwettbewerb ausgelobt: 77 Entwürfe gehen ein, die Idee mit der Nummer 64 gewinnt den ersten Preis, 5000 Reichsmark. Der blutjunge Stuttgarter Architekt Martin Elsässer, erst 26 Jahre alt, ein Schüler des renommierten Theodor Fischer (Siegle-Haus, Kunstgebäude) feiert seinen ersten Prestigeerfolg. Das Urteil der Jury: „Bei klarer zweckmäßiger Gestaltung der Grundrisse zeigt dieser Entwurf im Äußeren eine ungewöhnlich vornehme und monumentale Haltung, welche den Zweck des Gebäudes in vortrefflicher Weise zum Ausdruck bringt.“ Elsässers Erfolg wiegt doppelt, denn der prominente Paul Bonatz muss sich mit Platz zwei und 3000 Reichsmark begnügen.

Auch Martin Elsässer tritt an jenem denkwürdigen Samstag vor hundert Jahren ans Rednerpult, um sich feiern zu lassen und seinen kühnen Entwurf zu erläutern: „Ich möchte einen neuen Typus schaffen, der zwischen Lagerspeicher und Warenhaus die Mitte hält.“ Sein Bau soll „der Stadt zur Ehre gereichen und für spätere Zeiten ein Denkmal unserer Zeit und unserer Arbeit sein“. In jenen Januartagen ist es bitterkalt, viele der Eröffnungsgäste tragen frostrote Nasen, dennoch herrscht Aufbruchstimmung. Das „Neue Tagblatt“ berichtet am Montag, 2. Februar, nicht nur von der Eröffnung der Markthalle, sondern auch heiter bis euphorisch von der Jungfernfahrt mit der „Elektrischen“ nach Botnang. Keiner ahnt, dass der Frieden bröckelt, sich ein Krieg zusammenbraut, der am 6. August im Hof der Rotebühlkaserne beginnt, wo Wilhelm II. seine Truppen verabschiedet, wieder unter dreimal „Hoch!“

Über den reinen Marktbetrieb der nächsten zwanzig Jahre findet man kaum etwas Habhaftes in den Annalen. Das ändert sich schlagartig in der Nazizeit. Schon im September des Jahres 1933 richtet die Stadt unter ihrem neuen Oberbürgermeister Karl Strölin – Lautenschlager hat man abserviert – im Bürotrakt der Markthalle eine „Beratungsstelle für Luftschutzbauten“ ein. Wenig später drangsalieren die Nazis jüdische Händler, drängen sie rabiat hinaus. In den schwierigen Kriegsjahren murren die Bürger, weil man an einigen Marktständen Waren vom allgemeinen Verkauf zurückhält, um sie „bestimmter Kundschaft“ zuzuschanzen, nämlich den Frauen örtlicher Nazigrößen.

Im Sommer und im Herbst 1944 wird die Markthalle bei drei Luftangriffen schwer getroffen, nur die Außenwände und kleine Teile des Hauses bleiben noch stehen. Die Innenstadt ist zu mehr als achtzig Prozent ein Trümmerfeld. Im Jahr 1946 beginnt dann der provisorische Wiederaufbau der Markthalle, er zieht sich hin bis 1953. Vom Abriss redet niemand, die Versorgung der Menschen hat Vorrang.

Die Krise in den Sechzigern

Mitte der Sechziger macht die gute alte Markthalle plötzlich Schlagzeilen. Die städtischen Rechnungsprüfer prangern das wachsende Defizit des Betriebs heftig an, fordern den Gemeinderat zum Handeln auf. Sechsstellige Beträge türmen sich auf, nach heutigem Geldwert geht es um Millionen aus der Stadtkasse. Zugleich meutern die Händler, weil die Stadt die Standmieten erhöhen möchte. 1969 wird zum Schicksalsjahr: Der Abmangel, wie es im Finanzdeutsch heißt, klettert auf die Marke von 250 000 Mark, zu allem Überfluss bricht durch einen technischen Defekt ein Feuer aus, der Schaden ist beträchtlich, die Reparaturen fordern vier Wochen Schließzeit. Das Stadtparlament hat die Nase voll, muss endlich aktiv werden. Sein Beschluss: „Der Architekt Otto Jäger wird gebeten, ein Gutachten anzufertigen über den Zustand und die Zukunft der Markthalle.“

Otto Jäger ist ein Star. Unter der mutigen Parole „Wohnform 2000“ hat er die Wohnstadt Asemwald auf den Fildern geschaffen, als „Hannibal“ international beachtet. Jäger und seine Mitarbeiter nehmen ihren Auftrag wörtlich, wofür man sie bis heute zu Unrecht kritisiert: „Die Substanz des Gebäudes ist stark angegriffen, eine Sanierung und Modernisierung würde sieben bis acht Millionen Mark kosten.“

Deshalb empfiehlt er diese Varianten: Vermietung der Anlage an einen privaten Investor. Oder den Abbruch der Halle, um einen Neubau auf Erbpacht oder durch Verkauf des Grundstücks zu ermöglichen. Oder, schließlich, Verkauf oder Verpachtung des ganzen Areals, damit eine Neuordnung bis hinüber zum Marktplatz möglich wird. Jäger sagt: „Hier müsste das Herz unserer Stadt schlagen. Ich stelle mir vor, dass man ein modernes Zentrum mit Kaufhaus, Büros, Läden, Restaurant und Wohnungen errichtet. Kostenpunkt: 60 Millionen D-Mark.“ Investoren ließen sich finden.

Immer wieder wird behauptet, die Stuttgarter Architektenschaft habe damals den Abriss der Markthalle gefordert, ebenso der Gemeinderat – nur dem Protest der Bürger und der lokalen Presse sei die Rettung aus den Klauen der modernisierungswütigen Erneuerer zu verdanken. Das ist falsch. Richtig ist: die CDU-Stadträtin Elisabeth Maibach und der SPD-Stadtrat Heinz Lauber schlagen vor, die Markthalle in ein Jugendzentrum zu verwandeln, weil Stuttgart in zentraler Lage keines besitzt. Der SPD-Stadtrat Otto Palmer, ein grundsolider Finanzpolitiker, warnt davor, die Markthalle zu einem Fass ohne Boden werden zu lassen. Der legendäre linke Stadtrat Eugen Eberle geht auf die Barrikaden: „Wir haben schon viel zu viel abgerissen!“ Andere folgen ihm in seinem Nein, auch die lokalen Zeitungen.

Zu keiner Zeit besteht im Stadtparlament eine Mehrheit für den Abriss. Das Problem liegt woanders. Als das Land und das Regierungspräsidium von Jägers Gutachten hören, schalten sich die beamteten Denkmalschützer ein und warnen, denn Elsässers Bau von 1910 genießt bis dato keinerlei rechtlichen Schutz. Also bricht ein Prestigekampf auf höchster Ebene aus: Während sich die Behörden des Landes anschicken, den Bau an der Dorotheenstraße zügig als ein Kulturdenkmal einzustufen, um einem möglichen Abbruch den Riegel vorzuschieben, reagieren OB Arnulf Klett sowie seine Bürgermeister Fahrenholtz und Künne öffentlich ungehalten: „Es wäre rechtlich zu prüfen, ob wir es uns als Stadt bieten lassen müssen, dass uns das Land in so einer Frage bevormundet.“ Das ist der Knackpunkt. Dabei wissen beide Seiten längst, dass die Markthalle bleibt, wo sie ist. Otto Jäger schweigt, fürchtet um seinen guten Ruf, hat für den Rat seine Schuldigkeit getan. Die Markthalle wird unter Schutz gestellt, seither mit Millionen aus der Stadtkasse in Funktion gehalten.

Heute ist die Stuttgarter Markthalle Kult. Eine Attraktion für Touristen, ein Quell der kulinarischen Vielfalt, ein Treffpunkt für Genießer, ein Ort, an dem die Globalisierung der Geschmäcker und des Angebotes sichtbar wird wie nirgendwo sonst. Ob der Bau noch einmal hundert Jahre hält? Hoffentlich.

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