Jugendstil ist in. Das zeigt sich nicht nur beim Juniorcup in Sindelfingen, wo schon viele Toptalente am Ball waren. Doch dahinter tobt national und international ein harter Kampf um die vermeintlichen Wunderkinder.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Stuttgart - Mesut Özil war schon da. Im Januar 2006 steckte der heutige Star des FC Arsenal als bartloser Bub in einem königsblauen Trikot mit der Nummer elf und zeigte in Sindelfingen sein Fußballtalent: feine Technik, geschmeidige Bewegungen und einen Blick für den Raum, den offenbar nur er sah. Mit Schalke 04 gewann der damals 17-jährige Özil schließlich den Mercedes-Benz-Juniorcup, er wurde Torschützenkönig und gab sein erstes Fernsehinterview.

 

Auch Sami Khedira war schon da. Ebenso Manuel Neuer, Kevin-Prince Boateng, Nuri Sahin, Bacary Sagna, Carlos Zambrano, Eren Derdiyok, Yann Sommer und, und, und – auf mehr als 90 Nachwuchsspieler, die später zu Nationalspielern ihrer Heimatländer wurden, können die Turnierveranstalter verweisen. Fünf davon stemmten im Juli 2014 für die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sogar den Weltmeisterpokal in den Nachthimmel von Rio de Janeiro, selbst wenn sie wie Benedikt Höwedes und Christoph Kramer beim Budenzauber nicht sonderlich auffielen. Dennoch gilt: wer am 5. und 6. Januar in den Glaspalast kommt, will immer auch einen Blick in die Glaskugel werfen und sehen, wen die Fußballzukunft hervorbringt.

Die letzte Figur, die furios in Erscheinung trat, ist Leroy Sané gewesen – wegen seiner Haarpracht und seiner spektakulären Spielweise. An dem Schalker Stürmer zeigt sich aber auch, wie rasant sich der Jugendfußball entwickelt: Nur 21 Monate nach seinem Auftritt beim U-19-Hallenturnier 2014 in Sindelfingen erhielt Sané eine Berufung von Bundestrainer Joachim Löw in die Nationalmannschaft – und debütierte dort auch.

Nachwuchsbereich hat hohen Stellenwert

Früher hat das alles länger gedauert, selbst für Ausnahmetalente. Doch der Nachwuchsbereich genießt in Deutschland seit Jahren einen hohen Stellenwert. „Die Vereine leisten hervorragende Arbeit“, sagt Marcus Sorg, der U-19-Trainer beim DFB, über die Ausbildungsqualität. Das liegt zum einen an der Pflicht für die Profivereine, viel Geld und Fachwissen in die Nachwuchsleistungszentren zu stecken, zum anderen an der in den Clubs gewonnenen Überzeugung, schon bald gut geschulte Spieler zu erhalten und nicht mehr im Ausland zukaufen zu müssen.

Beide Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Jugendstil in der Bundesliga in ist. Was wiederum dazu geführt hat, dass ein wahrer Jugendakademie-Tourismus eingesetzt hat, wie der VfB-Manager Robin Dutt beobachtet. Stuttgart, Hoffenheim, Schalke, Leverkusen, Wolfsburg, München, neuerdings Leipzig – die Toptalente haben die Wahl. Und auch die Vereine sind wählerisch. Was sich nicht zwangsläufig positiv auf den fußballerischen Fortschritt auswirkt. „Wir sollten nicht so verschwenderisch mit den Talenten umgehen“, sagt Dutt, „sondern viel in den Mensch investieren und die Spieler durchfördern.“ Der VfB-Manager verweist dabei in den Norden und spricht vom „Island-Faktor“: Das kleine Land mit der sehr überschaubaren Zahl von 20 000 Fußballern hat es geschafft, sich für die EM zu qualifizieren. „Weil sie gezwungen sind, mit dem vorhandenen Spielermaterial zu arbeiten“, sagt Dutt.

Auch Marcus Sorg glaubt, dass ein familiäres Umfeld und die regionale Bindung eines Jugendspielers ihn weiter bringen, als früh in die weite Fußballwelt hinauszuziehen. „Die Vereine sollten zunächst an den eigenen Talenten festhalten, anstatt bei den Eigengewächsen immer nur zu sehen, was sie nicht können, und bei den externen Spielern, was sie können“, sagt Sorg.

Der Kampf um den besten Nachwuchs wird härter

Doch wo früher unter den Bundesligisten ein Gentlemen’s Agreement herrschte, sich die besten Nachwuchskräfte nicht gegenseitig abspenstig zu machen, regiert jetzt der freie Markt. International werden da für vermeintliche Wunderknaben bereits Millionenbeträge aufgerufen. Am großen Wettbieten nehmen dann vor allem die europäischen Edelclubs teil: Manchester City, Manchester United, FC Arsenal, Real Madrid, FC Barcelona, FC Bayern.

Vor einem Jahr nannte die „Süddeutsche Zeitung“ den Kampf um ein 16-jähriges Milchgesicht den „Ödegaard-Pokal“. Im Finale um den vermeintlich neuen Messi aus Norwegen standen Madrid und München. Real gewann, stattete Martin Ödegaard mit einem Vertrag bis 2021 aus, stellte seinen Vater Hans Erik als Berater an und bezahlt der Mittelfeldhoffnung angeblich 45 000 Euro – in der Woche. Das macht mehr als 2,3 Millionen Euro im Jahr für einen, der zunächst für Castilla, Reals B-Mannschaft, in der dritten Liga spielt. Seine Bilanz: 15 Einsätze, null Tore.

Das muss aber gar nicht gegen Ödegaard sprechen, obwohl er selbst unzufrieden ist. Manchmal lässt die Zukunft eben auf sich warten. Zumal in Spanien Supertalente nicht so bald wie in Deutschland nach oben gezogen werden. Siehe VfB, der zuletzt Timo Werner, Timo Baumgartl und Arianit Ferati noch als B- oder A-Jugendliche beförderte. „Aber nicht überall herrscht eine so tolle Konstellation wie in Stuttgart, wo die Talente auch in der dritten Liga Spielpraxis sammeln können“, sagt Sorg. Eine andere Strategie verfolgt der VfL Wolfsburg: Dort spielen die U-19-Junioren auch in der U 19. „Das muss kein Nachteil sein“, sagt Sorg, „da die Talente lernen, in ihrem Leistungsbereich Verantwortung zu übernehmen.“

Millionenbeträge für die Hochbegabten

Das Beste aus beiden Ansätzen übernimmt der DFB-Coach in seiner Auswahl, die im nächsten Juli um den EM-Titel spielt – im eigenen Land, was den Reiz und die Aufmerksamkeit erhöht. Denn auch dieses Turnier dient als Schaufenster. Scouts und Berater werden auf der Tribüne sitzen, um den Markt zu beurteilen, ihre Klienten zu betreuen und im Fall der Fälle Transfers vorzubereiten. Doch das wird dann teuer, weshalb der Talentwettbewerb spätestens nach den Schülersichtungen (U 15) der Landesverbände anläuft.

Für die Hochbegabten fließen national fünf- und sechsstellige Beträge, die Schattenseiten des Geschäfts gibt es gratis dazu. Da locken Clubs mit Geld und Infrastruktur; da lauern Spielerberater mit ihren Dienstleistungen und Versprechungen; da zeigen Kinder und ihre Eltern wenig Geduld, wenn es nicht mehr schnell vorangeht. So musste Robin Dutt miterleben, wie ihm ein Spielerberater einen Jugendlichen vom VfB-Hof holte – und nur wenige Tage später ihm der gleiche Spielerberater einen Teenager von einem anderen Erstligisten anbot. Reagiert hat der Manager nicht.

Doch selbst mit den hehrsten Absichten können sich die Vereinsverantwortlichen dem Gezerre nur schwer entziehen. Zu viel Geld und zu viele Interessen sind im Spiel. Im letzten Fifa-Report summierten sich die Transferkosten für 2014 auf mehr als vier Milliarden Dollar, ein wachsender Teil entfällt dabei auf die Wechsel von Minderjährigen: etwa 14 Prozent der registrierten 13 090 Transfers weltweit.

Beim nächsten Bericht des Weltverbandes wird sich vermutlich keine Trendwende abzeichnen. Deshalb verstärken Vereine, die über normale finanzielle Möglichkeiten verfügen, zwei Punkte. Erstens: die Nachwuchskräfte werden früh und lang vertraglich gebunden. Zweitens: Konzepte und Kompetenzen rücken bei der Ausbildung in den Vordergrund. „In der Jugend müssen Werte wieder eine größere Rolle spielen“, sagt Dutt. Ehrgeiz, Verantwortungsbewusstsein, Identifikation. Schließlich sollen die Talente nicht nur auf den Profifußball vorbereitet werden, sondern ebenso auf das Leben.