In unserem Nachbarland entsteht ein neuer Klassenkampf – zwischen den Menschen in der Provinz und den bürgerlichen Hipstern in den Metropolen . Das wird sich auch bei der Präsidentenwahl offenbaren.

Paris - Seit der Großen Französischen Revolution von 1789 ist Frankreich in zwei Teile gespalten: die eine Hälfte ist republikanisch, egalitär, laizistisch und in sexuellen Dingen libertär, die andere royalistisch, hierarchisch, katholisch und auf die traditionellen konservativen Familienwerte bedacht. Historiker der aus der Zeitschrift „Annales“ hervorgegangenen sozialgeschichtlichen Schule verorten diese beiden Landesteile auch geografisch: die Zentren des linken, republikanischen Frankreich sind das Pariser Becken im Norden und die Mittelmeerküste um Marseille, die Hochburgen des konservativen, royalistischen Frankreich liegen an der Atlantikküste im Westen und in Gegenden wie Lothringen oder Savoyen im Osten.

 

An allen Wendepunkten der französischen Geschichte der letzten zweihundert Jahre vom Aufstand der Commune 1871 über die Dreyfusaffäre, die Trennung von Kirche und Staat 1905, das Vichy-Regime von 1940 bis 1944, die Auseinandersetzungen um den Algerienkrieg und den Mai 1968 bis zum Streit um die Homo-Ehe 2013 trat diese Bruchlinie stets in Erscheinung.

Aufstieg des Front National

Bis in die 1980er Jahre hinein hatte diese Spaltung der französischen Gesellschaft freilich auch etwas Berechenbares: man wusste, wo die linken Wähler geografisch und soziologisch zu verorten waren, und wo man die Anhänger der Mitte-Rechts-Parteien lokalisieren musste. Doch seitdem beobachten Sozialwissenschaftler eine überraschende Auflösung dieser seit mehr als 200 Jahren stabilen Parteibindungen. Der Aufstieg des Front National von einer rechtsradikalen Splittergruppe zu einer Volkspartei, die immer mehr Franzosen für wählbar halten, ist das sichtbarste Zeichen dieser tektonischen Verwerfungen im französischen Gesellschaftsgefüge. Was, so fragen sich jetzt viele im Vorfeld der am 23. April und am 7. Mai anstehenden Präsidentenwahl, ist da geschehen?

„Weder rechts noch links“ – so lautet die Parole, mit der sich die Front-National-Chefin Marine Le Pen um das Amt der Präsidentin der Republik bewirbt. Tatsächlich hat sie, seit sie 2011 den Vorsitz von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen übernommen hat, eine strategische Neuausrichtung der Partei eingeleitet. Der 1972 gegründete Front National war ursprünglich ein Sammelbecken von katholischen Reaktionären, Antisemiten, übrig gebliebenen Anhängern des Vichy-Regimes, Veteranen des Indochina- und Algerienkriegs, kleinen Geschäftsleuten und neoliberalen Steuerrebellen (Jean-Marie Le Pen sah sich als französischer Ronald Reagan!). Heute dagegen verteidigt die Partei den Sozialstaat und die „kleinen Leute“ gegen die neoliberalen Eliten und die durch den globalen Kapitalismus hervorgerufenen sozialen Verwerfungen – und hat Erfolg damit, wie ihre Wahlsiege in Regionen zeigen, die noch bis in die 1980er Jahre hinein sozialistisch oder kommunistisch gewählt haben. Der Chefstratege hinter dieser „Dédiabolisation“ (Entteufelung) ist Marine Le Pens Stellvertreter und engster Mitarbeiter Florian Philippot, der im Fall ihres Wahlsiegs als künftiger Premierminister gehandelt wird. Die Partei gibt sich heute republikanisch und laizistisch, schmückt sich also mit Etiketten, die ursprünglich einmal Kennzeichen der linken, jakobinischen Tradition waren.