Die Vorfälle in Ferguson scheinen die schlimmsten Vorurteile über die US-Polizei zu bestätigen: Sie ist brutal, unterdrückt Minderheiten, sieht sich über dem Gesetz. Doch eine Verallgemeinerung ist gar nicht möglich. Dafür ist das Polizeiwesen in den USA viel zu kleinteilig.

Die Vorfälle in Ferguson scheinen die schlimmsten Vorurteile über die US-Polizei zu bestätigen: Sie ist brutal, unterdrückt Minderheiten, sieht sich über dem Gesetz. Doch eine Verallgemeinerung ist gar nicht möglich. Dafür ist das Polizeiwesen in den USA viel zu kleinteilig.

 

Washington - Für die Polizei in Ferguson ist es ein PR-Desaster. Nicht nur die Todesschüsse auf den unbewaffneten schwarzen Teenager Michael Brown haben die Truppe der Kleinstadt in Verruf gebracht. Was danach folgte, verschlechterte ihr Ansehen weiter: Mit Gummigeschossen, Tränengas und Rauchbomben gegen Demonstranten vorzugehen und mit Sturmgewehren auf sie zu zielen, das sieht in der selbsterklärten Vorreiternation für Meinungsfreiheit schlecht aus. Journalisten zu behindern und stundenlang hinter Gitter zu sperren, kratzt am Image des „Freund und Helfers“.

Vor allem wirft das Geschehen die Frage auf, ob der Vorort von St. Louis sinnbildlich ist für den Rest des Landes. Greifen Polizisten in den USA unverhältnismäßig hart durch? Sehen sie sich über dem Gesetz, wie mancher Sheriff in alten Western-Filmen? Die Antwort ist kompliziert. Bürgerrechtsgruppen haben durchaus den Eindruck, dass etwas im Argen liegt bei der Strafverfolgung in Amerika. Sie beklagen die Polizeigewalt vor allem gegen Randgruppen. Schwarze würden unverhältnismäßig oft verhaftet, Latinos - weil sie illegale Einwanderer sein könnten - zu oft für Personenkontrollen gestoppt.

Wenige Kilometer von Ferguson entfernt, wo Hunderte Schwarze seit Browns Tod täglich gegen die Polizeigewalt protestieren, kam es am Dienstag wieder zu so einem bedenklichen Zwischenfall. Ein 23 Jahre alter Afroamerikaner soll zwei weiße Polizisten mit einem Messer bedroht haben. Als er ihnen zu nahe kam, erschossen die Beamten ihn. Berechtigte Notwehr - oder saß der Colt zu locker?

Verlässliche Zahlen gibt es kaum. Nach einer Hochrechnung der „USA Today“ mit Daten der Bundespolizei FBI ist es in 25 Prozent der Fälle tödlicher Polizeigewalt so, dass ein weißer „Cop“ einen Afroamerikaner erschoss. Doch die Statistik ist löchrig: Im ganzen Land gibt es rund 17 000 unterschiedliche Polizeibehörden. Die allermeisten geben keine Daten an die Bundesbehörden weiter.

Denn in den Vereinigten Staaten herrscht bei dem Thema eine extreme Kleinstaaterei. Als Beispiel sei die Hauptstadt Washington mit ihren unüberblickbar vielen Sicherheitsbehörden genannt: Es gibt die städtische Polizei. Die Metro Transit Police für das öffentliche Verkehrswesen. Dann ist da die Capitol Police für die Gegend um das Kongressgebäude oder der Secret Service rund ums Weiße Haus. Nicht zu vergessen zahlreiche Wachdienste, die ihre Mitarbeiter stets mit polizeiähnlichen Uniformen und oft mit Schusswaffen ausstatten. Der Fernsehzuschauer in Deutschland kennt das aus vielen Krimiserien. Mal übernimmt der lokale Sheriff einen Fall, dann mischen sich Beamte der Bundespolizei FBI ein, bis plötzlich die Highway Patrol ins Spiel kommt. Das System ist unübersichtlich, die Gesetze und Kompetenzen sind je nach Staat, Landkreis oder Bezirk immer wieder anders.

Polizisten werden häufig aggresiv bedrängt

Überblickswissen ist Mangelware. Laut einer Studie des John Jay College für Kriminologie in New York hat es selten juristische Konsequenzen, wenn ein Polizist einen unbewaffneten Afroamerikaner erschießt. In 21 untersuchten Fällen zwischen 1994 und 2009 sei es sieben Mal zu einer Anklage gekommen - ob wegen fahrlässiger Tötung, der Behinderung der Justiz oder dem Bruch von Bürgerrechten. In drei Fällen wurden die Beamten schuldig gesprochen.

Viele Bürger wiederum verteidigen die Gesetzeshüter. „Kein Polizist geht auf die Straße, um jemanden zu erschießen, sei es eine bewaffnete oder unbewaffnete Person“, schrieb der Professor für Heimatschutz an der Colorado Tech University, Sunil Dutta, kürzlich in der „Washington Post“. „In der überwältigenden Zahl der Fälle können nicht die Polizisten verhindern, dass eine Verhaftung in einer Tragödie endet, sondern die Menschen, die angehalten werden.“

Polizisten würden häufig angeschrien oder aggressiv bedrängt. „Wenn sie Gewalt anwenden, dann um ihre eigene oder die öffentliche Sicherheit zu verteidigen.“ Für Dutta ist die Sache daher klar: „Wenn Du nicht erschossen, mit Elektroschocks und Pfefferspray angegriffen, mit einem Knüppel geschlagen oder auf den Boden geschleudert werden willst, dann tue, was ich Dir sage“, lautet sein Tipp.

Michael Bell - ein Weißer - sieht das ganz anders. Er verlor vor zehn Jahren seinen Sohn. Ein Polizist erschoss ihn bei einer Verkehrskontrolle. Der Beamte sei mit seiner Pistole an einem kaputten Außenspiegel des Wagens hängengeblieben. Er dachte, der junge Mann würde nach seiner Waffe greifen - und erschoss ihn.

Es habe nur 48 Stunden gedauert, schrieb Bell kürzlich im Magazin „Politico“, bis die Behörden sich ganz ohne Zeugenbefragung und Beweisaufnahme vollständig von der Tat reingewaschen hätten - es gab keine Anklage, keinen Prozess, nicht mal eine Strafversetzung für den Beamten. Bell kämpfte in seinem Heimatstaat Wisconsin jahrelang für ein Gesetz, demzufolge jeder Todesschuss durch einen Polizisten von einer unabhängigen Behörde überprüft werden muss. Er hatte Erfolg, das Gesetz trat 2012 in Kraft. Doch Wisconsin ist da eine Ausnahme.