An diesem Donnerstag tritt der ehemalige VW-Chef Winterkorn vor den Untersuchungsausschuss. Auch nach den Einigungen in den USA gibt es weitere Hürden, die teuer werden können – wie etwa die Aktionärsklagen auf Schadenersatz.

Chefredaktion: Anne Guhlich (agu)

Stuttgart/Berlin - Am heutigen Donnerstag soll Martin Winterkorn, der ehemalige Chef des Autobauers Volkswagen, vor dem Untersuchungsausschus des Bundestags gehört werden. Privatanlegervertreter erhoffen sich mehr Informationen zu dem Zeitpunkt, ab dem Winterkorn über die Manipulation Bescheid wusste. Die Aktionäre haben teilweise herbe Verluste erlitten. Nach der Offenlegung des Betrugs waren die Aktien des Konzerns von 160 auf 100 Euro gefallen – also ein Minus von fast 40 Prozent.

 

Wie viele Anleger haben inzwischen gegen Volkswagen geklagt und wie hoch ist der Schaden, der VW dadurch entstehen könnte?

Beim Landgericht Braunschweig sind inzwischen über 1520 Schadensersatzklagen von Kapitalanlegern in Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal anhängig, teilt ein Sprecher mit. Die anhängigen Klagen haben demnach einen Gesamtstreitwert von rund 8,85 Milliarden Euro.

Wie geht es mit diesen Klagen nun weiter?

Da die Schadenersatzforderungen in einem Musterverfahren verhandelt werden, muss als nächstes vom Oberlandesgericht in Braunschweig ein Musterkläger bestimmt werden. Dies soll in den nächsten Wochen passieren. Nach Angaben des Gerichts haben bislang sieben Rechtsanwaltskanzleien beim Oberlandesgericht den Anstrag eingereicht, den Musterkläger zu stellen.

Warum ist der Zeitpunkt, wann Martin Winterkorn über den Abgasskandal Bescheid wusste, so wichtig für VW-Aktionäre?

Weil sich die Zeitspanne, innerhalb derer Aktionäre Schadenersatzansprüche geltend machen können umso mehr erweitert, je weiter der Zeitpunkt in die Vergangenheit rück. Die Anwälte stützen sich auf das Wertpapierhandelsgesetz und auf das Deliktsrecht, wobei ersteres für die Anleger eine günstigere Rechtsgrundlage bietet.

Was schreibt das Wertpapierhandelsgesetz vor?

Dass Unternehmen, die an der Börse gelistet sind, dem Markt wesentliche Informationen zur Verfügung stellen müssen. Alle Anleger müssen gleichzeitig über kursrelevante Veränderungen innerhalb eines Unternehmens unterrichtet werden, damit alle Aktionäre auf der gleichen Informationsgrundlage entscheiden können, ob sie eine Aktie kaufen oder nicht. Behält ein Unternehmen der Öffentlichkeit derartige Informationen vor, verstößt es gegen die sogenannte Ad-hoc-Pflicht und ist zu Schadenersatz verpflichtet, wenn ein Dritter dadurch Verluste erleidet. Anders als im Deliktsrecht (einer der wesentlichen Vorwürfe lautet hier „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“) liegt die Beweislast für ein Verschulden und die Kausalität nach den einschlägigen Normen des Wertpapierhandelsgesetzes beim Unternehmen, soweit es um den Kursdifferenzschaden geht.

Ab wann soll VW seine Publizitätspflicht verletzt haben?

Der Tübinger Anlegervertreter Andreas Tilp geht davon aus, dass er schon ab 2008 eine Ad-hoc-Pflichtsverletzung nachweisen kann. „Die Anmeldung der manipulierten Fahrzeuge erfolgte ab Juni 2008“, sagt Marc Schiefer aus Tilps Kanzlei. „In den US-Anmeldeformularen steht der konkrete Verweis darauf, dass derjenige, der das Fahrzeug anmeldet, für die Richtigkeit der Angaben haftet und sich anderenfalls hohen Geldstrafen der US-Behörden aussetzt“, so Schiefer. „Ab diesem Zeitpunkt hat Volkswagen dem Markt unserer Ansicht nach also eine Insiderinformation vorenthalten, da der Markt nicht über die Risiken informiert wurde, die das Unternehmen ab diesem Zeitpunkt eingegangen ist.“ Dabei wird jedoch auch zu prüfen sein, inwiefern bereits eine Verjährung stattgefunden hat. Schiefer geht davon aus, dass Winterkorn zumindest ab Mai 2014 Kenntnis über den Betrug nachgewiesen werden kann. Denn zu diesem Zeitpunkt erhielt der damalige Konzernlenker die Notiz eines Mitarbeiters für seinen sogenannten Wochenendkoffer, aus der hervorgeht, dass die amerikanischen Behörden bei ihren Messungen die erhebliche Überschreitung der zulässigen Stickoxidwerte bei Wagen mit Dieselmotor festgestellt haben und dass davon auszugehen sei, dass die Behörden dies überprüfen werden.

Was sagt Volkswagen dazu?

Der Autokonzern Volkswagen wandte sich am 22. September 2015 mit einer Pflichtmitteilung an die Börse. Einen Verstoß gegen die Publizitätspflicht bestreitet das Unternehmen. „Ob und inwieweit Herr Winterkorn von dieser Notiz damals Kenntnis genommen hat, ist nicht dokumentiert“, erklärt VW etwa im Hinblick auf den Wochenendkoffer. Der Blick richtet sich so vor allem auf ein Treffen Ende Juli 2015. Laut „Bild am Sonntag“ wog eine Runde von VW-Managern an diesem Tag das Für und Wider eines Einräumens der Manipulationen ab. Ein Insider habe gesagt: „Wir haben darüber gesprochen, dass etwas Illegales in unsere Autos installiert wurde.“ Damit stellen sich einige grundlegende Fragen. Wie detailliert waren die Kenntnisse zum „defeat device“ im Sommer 2015? Noch gibt es aber keine Beweise.

Muss Winterkorn persönlich informiert gewesen sein, damit die Anleger auf Schadenersatz pochen können?

Die Anlegeranwälte vertreten die Position, dass Volkswagen auch dann schadersatzpflichtig ist, wenn Martin Winterkorn nicht oder erst spät über die Betrugssoftware informiert worden ist. Marc Schiefer von der Kanzlei Tilp spricht in diesem Zusammenhang von einem sogenannten Organisationsverschulden. „Die Zurechnung an den Vorstand kann auch anderweitig erfolgen“, sagt Schiefer. „Wir argumentieren, dass die Organisationskette in einem Unternehmen so aufgebaut sein muss, dass der Vorstand Kenntnis bekommt.“