Wie weit geht Deutschlands Verantwortung im Irak? Erstmals versucht sich die Kanzlerin im Bundestag an einer Erklärung. Sie redet nicht nur über militärische Ausrüstung, sondern kündigt auch an, Flüchtlinge aufnehmen zu wollen.

Berlin - Sigmar Gabriel ist an diesem Tag Avantgarde – er ist allen voraus. Das war in jüngster Zeit nicht immer so, gerade bei dem Thema, wegen dem die Abgeordneten des Deutschen Bundestags ihren Sommerurlaub vorzeitig beenden müssen. Eigentlich hatte sich der sozialdemokratische Vizekanzler vorgenommen, Rüstungsexporte einzudämmen. Jetzt wirbt er um Unterstützung für Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak, für den Kampf gegen die Terrortruppen des Islamischen Staates. Es dauerte eine historische Sekunde, bis Gabriel den Kurswechsel nachvollzogen hatte. Doch jetzt ist er der Erste aus der Regierung, der zu der Debatte erscheint, die im Parlament dazu ansteht.

 

Die 48. Vollversammlung des Bundestags war im Sitzungskalender nicht vorgesehen, zumindest nicht an diesem Tag. Es war auch nicht vorgesehen, worüber jetzt zu sprechen ist. Die Sitzung beginnt etwas verspätet – und doch weit vor unserer Zeit. Norbert Lammert, der Präsident des Parlaments, kommt ohne Umschweife auf den außergewöhnlichen Termin zu sprechen. Dass es sich um ein Treffen außer der Reihe handelt, erwähnt er nur beiläufig. Es geht ihm um das Datum – und letztlich um die historische Perspektive. Lammert erinnert an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Aus den „traumatischen Erfahrungen“ jener Epoche sei die Hoffnung erwachsen, aggressive militärische Gewalt würde in der Politik „ein für alle Mal geächtet“. Lammert zählt die aktuellen Ereignisse auf, die vor Augen führen, dass dies frommer Wunsch blieb. Bevor die Kanzlerin zu  Wort kommt, um darzulegen, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, bittet der Präsident alle Abgeordneten, sie mögen sich erheben, um der Opfer zu gedenken. Mitgefühl hat Vorrang vor Militärhilfe.

Ministerin von der Leyen spricht von einem Tabubruch

Angela Merkel nimmt den gleichen Umweg über die Vergangenheit. Auch sie kommt auf den Krieg zu sprechen, auf die Opfer und auf „Deutschlands immerwährende geschichtliche Verantwortung“, die sich davon ableiten lässt. Ihr Umweg ist bedeutend weiter. Er führt über viele Stationen – über die „europäische Einbindung“ deutscher Politik, die Ukraine, wo „Grundprinzipien der europäischen Nachkriegsordnung verletzt“ würden, die Nato, Afghanistan. Dieser weite Bogen soll eine Kontinuität, einen Kontext betonen, vor dem die aktuellen Entscheidungen zur Waffenhilfe an die Kurden zu bewerten sind. Damit dementiert sie unausgesprochen jene, die von Tabubruch und Epochenwende reden – allen voran ihre Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Über Waffen spricht Merkel übrigens kaum, allenfalls über „militärische Ausrüstung“.

Kein Konflikt der Welt lasse sich allein militärisch lösen, sagt die Kanzlerin. Es gebe aber „Situationen, in denen nur noch militärische Mittel helfen, um wieder eine politische Option zu haben“. Es dauert eine gute Viertelstunde, bis Merkel beim eigentlichen Thema ihrer Regierungserklärung ist: den „Gräueltaten“ im Nordirak. Sie wählt dramatische Worte, vermeidet aber überspitzte Begriffe, aus denen sich bindende Verpflichtungen ableiten ließen. Von Grausamkeiten, die „zum Himmel schreien“, ist bei ihr die Rede, aber nicht von Völkermord oder Genozid. Sie begründet ihr Handeln allein mit deutschen Sicherheitsinteressen. Was im Nahen Osten geschehe, „liegt in unserem Verantwortungsbereich“, sagt Merkel. „Warten und Hoffen“ sei keine Alternative, Risiken dürften nicht als Vorwand für Nichtstun herhalten. „Das, was ist“, mahnt die Kanzlerin, „wiegt schwerer als das, was sein könnte.“

Volker Kauder war erst vor Kurzem in Erbil gewesen

Den emotionalsten Kontrast zum gewohnt nüchternen und sachlichen Vortrag der Regierungschefin liefert in der Debatte Volker Kauder. Damit war nun nicht so ohne Weiteres zu rechnen, denn der Fraktionschef der Union ist in den eigenen Reihen durchaus gefürchtet dafür, dass er, mit bescheidenen rhetorischen Fähigkeiten ausgestattet, stets ohne Manuskript, ja nicht einmal mit einem Stichpunktzettel zum Rednerpult schreitet. Aber Kauder war erst vor Kurzem in Erbil gewesen, er hat mit den Betroffenen gesprochen, auch mit dem Präsidenten der autonomen Region Kurdistan, Masud Barsani. Und so bringt er mit recht einfachen Worten sogar die Linke dazu, Beifall zu klatschen, als er mit gehörig Pathos in der Stimme die Europäische Union auffordert, alles zu tun, den Menschen im Nordirak durch den Winter zu helfen. Es sei gut möglich, dass dies 200 bis 300 Millionen Euro koste, sagt Kauder. Aber „wenn die Europäische Gemeinschaft das nicht hat, dann müsste man verzweifeln“. Den Kurden wiederum müsse man helfen, sich zu wehren. Deshalb die Waffenlieferungen. Dabei wäre es natürlich wünschenswert, wie die Opposition dies fordert, die Vereinten Nationen stärker einzubinden, das dauere jedoch zu lange. Die Kurden bräuchten das Material „jetzt und sofort“, weil es sonst zu spät sei. Kauder ist es auch, der ein heikles Thema anschneidet, ohne freilich vertieft darauf einzugehen. Er fordert, dass den IS-Truppen der Rückzug nach Syrien erschwert werden müsse. Das aber wirft die Frage nach dem künftigen Umgang mit einem Despoten auf, den man vor Kurzem noch loswerden wollte: Syriens Diktator Baschar al-Assad. Darauf freilich geht Kauder in dieser Debatte nicht weiter ein.

Bei der SPD-Fraktionssitzung sind die Zweifel größer

Ähnlich leidenschaftlich muss Kauder in der Sitzung seiner Fraktion vor der Aussprache im Plenum argumentiert haben. Jedenfalls wird berichtet, dass es dort keinerlei Widerspruch gegen Waffenlieferungen mehr gegeben habe. Bei der SPD-Fraktionssitzung sind die Zweifel ungleich größer. 22 von 193 sozialdemokratischen Abgeordneten votierten vor der Debatte bei einer Probeabstimmung gegen den Entschließungsantrag, den Union und SPD dem Bundestag vorlegten. Vier Abgeordnete enthielten sich.

Die Sozialdemokraten tun sich schwer. Das Gebaren der Verteidigungsministerin von der Leyen hat die Bereitschaft der Genossen, dem zuzustimmen, keineswegs gehoben. Äußerungen, wonach sich hier ein Tabubruch oder gar ein Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik vollziehe, stießen bitter auf. Und so verbindet SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann seinen Auftritt auch mit einer erneuten Attacke gegen die CDU-Ministerin. „Ich finde, dass das oberflächliche und fahrlässige Gerede vom Tabubruch endlich aufhören sollte“, sagt Oppermann. Er nennt von der Leyen, die mit kühlem Gesichtsausdruck auf der Regierungsbank sitzt, nicht beim Namen, aber jeder weiß, wer gemeint ist.

Viel stärker als die Kanzlerin, die deutsche Sicherheitsinteressen in den Vordergrund ihrer Argumentation rückt, beschwört Oppermann die Gefahr eines Völkermordes. Der grausame Genozid in Ruanda und das damalige Versagen der internationalen Gemeinschaft „sollte uns eine Mahnung sein“, so Oppermann. Deshalb sei die Waffenlieferung nicht mit einem Rüstungsgeschäft vergleichbar. Das sei vielmehr „eine Nothilfe zur Rettung von Menschenleben“. Zudem stehe im Fokus des deutschen Engagements die humanitäre Hilfe. Aber die laufe ins Leere, wenn die IS-Truppen nicht von den kurdischen Peschmerga-Einheiten aufgehalten werden können.

Gysi bezweifelt die guten Absichten der Regierung

Linken-Fraktionschef Gregor Gysi bezweifelt die guten Absichten der Regierung. 70 Millionen Euro würde die Waffenhilfe kosten, lediglich 50 Millionen die Lieferung von Wasser, Nahrung und sonstigen lebensrettenden Hilfsgütern. Das zeige, dass die Regierung hier nicht Wort halte. Für Gysi ist es ein schwerer Auftritt. Er muss im Parlament so tun, als sei er kategorisch gegen Waffenlieferungen. Dabei hatte er sich noch vor wenigen Wochen dafür ausgesprochen. Mit Protestbriefen werde man den IS nicht stoppen, hatte er gesagt. Jetzt sagt er vor allem, wer seiner Ansicht nach Schuld an der vertrackten Situation habe, nicht aber, wie er der Gefahr begegnen möchte.

Völlig uneins sind die Grünen. Parteichef Cem Özdemir unterstützt den Kurs der Regierung, der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter nennt die Waffenhilfe „Treibstoff für massive innerirakische Konflikte“. Wenigstens in einem Punkt erfährt die Kanzlerin nirgendwo Widerspruch: Erstmals kündigt sie an, mehr Flüchtlinge aus dem Irak aufnehmen zu wollen. Zahlen nennt sie freilich nicht.