Dass er Ministerpräsident werden könnte, hat der Grüne, Winfried Kretschmann, nie geglaubt. Aber mitmischen in der Politik wollte er.

Stuttgart - Am Donnerstag kommt das Amt zum Mann. Winfried Kretschmann hat die Wendung, nach der das Amt zum Manne kommen müsse und nicht der Mann zum Amt, oft gebraucht; obwohl oder gerade weil sie ein Plagiat ist. Die Sentenz ist mit Erwin Teufel verbunden, seinem - wenn am Donnerstag alles nach Plan verläuft - Vorvorvorgänger als Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

 

Vorvorvorgänger. Man muss sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen. Teufel, mit dem Kretschmann gern verglichen wird, schied erst 2005 aus dem Amt. Gemessen an den politischen Gepflogenheiten im Südwesten klingt das wie gestern. Hans Filbinger, Lothar Späth und Erwin Teufel - sie alle hielten sich mehr als ein Jahrzehnt im Amt, am längsten Teufel, der es auf 14 Jahre brachte. Bei Günther Oettinger waren es noch fünf Jahre, Stefan Mappus schaffte nur noch ein Jahr, ehe die Wähler ihn abberiefen. Die Landespolitik ist schnelllebiger geworden, ihrer bisher bestimmenden Kraft, der CDU, gelang es zuletzt nicht mehr, das Land so zu prägen wie in den fast sechs Jahrzehnten zuvor.

Kretschmann griff schon immer zielstrebig nach Ämtern

Das Amt muss zum Manne kommen, nicht der Mann zum Amt. Erwin Teufel hat oft davon gesprochen, doch die Pointe liegt darin, dass damit Kretschmann viel besser getroffen ist als Teufel, der es schon seit jungen Jahren gewohnt war, zielstrebig nach Ämtern zu greifen. Bei Kretschmann verhielt sich das viel komplizierter. Teufel schloss sich einer Partei an, die bereits an der Macht war. Kretschmann dagegen gehörte zu den Gründern einer Partei, die in den Anfängen mit ihren Positionen eine radikale Minderheit in der Gesellschaft bildete. Und doch hatten die Grünen, deren Keim im Südwesten der - letztlich erfolgreiche - Widerstand gegen den Atommeiler Wyhl bildete, dieser Gesellschaft etwas zu sagen. Sonst wären sie verkümmert wie die zahllosen linksradikalen Splittergruppen jener Zeit.

Auch Kretschmann schloss sich in seinen Studienjahren in der ersten Hälfte der 1970er Jahre einer dieser Sektierergruppen an, der Hohenheimer Hochschulgruppe des maoistisch orientierten Kommunistischen Bundes Westdeutschland. Was er bald bereute. Später sprach er von einem "fundamentalen politischen Irrtum". Heute schlägt sein Herz schon lange nicht mehr links, doch damals, so erzählte Elsbeth Mordo dieser Tage der "Südwest Presse", sei er "voller linker Ideen gewesen". Mordo gehörte neben Kretschmann und vier weiteren Mitstreitern zu den ersten Grünen, die es 1980 in einem Flächenland ins Parlament schafften. Erwin Teufel war damals bereits Chef der CDU-Landtagsfraktion, und der Ministerpräsident hieß Lothar Späth, der voraussagte, die Grünen würde Episode bleiben, die schnell dahinwelkende Blüte einer schweren politischen Verblendung.

Kretschmann ist belesen

Doch es sollte anders kommen. Auch wenn Kretschmann heute auf seine 1968er-Sozialisation zurückschaut wie andere Leute auf einen etwas peinlichen Jugendstreich, so begann damals sein persönlicher Marsch durch die Institutionen. In seinem Fall war das der Landtag, der ihm die Bühne bot, seinen intellektuellen Horizont zu entfalten. Auch darin gibt es Berührungspunkte mit Erwin Teufel, in dessen Zeiten als Fraktionschef es hieß, er habe die Bücher gelesen, über die Lothar Späth nur redete. Dieses Bonmot lebte in jüngster Zeit wieder auf, als Grünen-Leute streuten, Kretschmann habe Bücher gelesen, deren Titel der Regierungschef Stefan Mappus nicht einmal kenne. In ihrer Belesenheit und in ihrem Respekt vor der geistigen Leistung sind sich Teufel und sein Nachfahre im Amt nahe.

Mit zwei Unterbrechungen sitzt der 62-jährige Kretschmann seit 1980 im Landtag. Er hat sich zum Vorzeigeparlamentarier gemausert. Nur der Lautsprecher der außerparlamentarischen Bewegung im Landtag zu sein, Resolutionen zu verlesen und ansonsten Obstruktion zu üben - dies lehnte er ab. "Wenn ich dort reingehe, arbeite ich ernsthaft mit", sagte er 1984. Im vergangenen Jahr formierte sich erneut eine Bewegung gegen das Parlament. "Lügenpack"-Rufe brandeten gegen den Landtag. Kretschmann gefiel das nicht, aber er hielt sich zurück. Der sonst so deutliche Kretschmann wurde undeutlich. Den Fürsprechern der repräsentativen Demokratie war das zu matt, aber auch bei Stuttgart-21-Gegnern erwachte Misstrauen gegen den Grünen.

Kretschmann behauptet nicht nur, er beweist

Zumal im Zustand der inneren Erregung vermag Kretschmann große Reden zu halten. So war das am 5. Oktober 2000, als er während einer Debatte über die rechtsradikalen "Republikaner", die bereits in der zweiten Legislaturperiode im Parlament saßen, die Rechtsaußenpartei als geistige Brandstifter demaskierte. Und dies im Gegensatz zu seinen Mitrednern nicht nur behauptend, sondern beweisend, indem er mit profundem historischem Wissen die auf Zweideutigkeit angelegte Sprache der "Republikaner" sezierte und offenlegte, wie sie mit scheinbar biederen Formulierungen im passenden Kontext rechtsradikale Klischees bedienten.

Kretschmann beruft sich gern auf die Französische Revolution und er beschwört das Erbe der europäischen Aufklärung. Da schwingt linkes Bewusstsein mit, das ihn anschlussfähig hielt an die SPD - auch in den vergangenen Jahren, als er für eine "asymmetrische Koalition" mit der CDU plädierte. Eine Politik der Diagonalen, hinter der die Idee steckte, über den Einfluss der CDU auf die Wirtschaftseliten die Ökologisierung der Ökonomie voranzutreiben. Womöglich handelte es sich bei dem Konstrukt aber nur um die Anerkennung der Tatsache, dass mit den Roten bis zum 27. März im Südwesten keine Mehrheit zu holen war. "Die Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit", auch diesen Satz schätzen Kretschmann und Teufel.

Die beiden Katholiken meiden Wichtigtuerei und sie sind bekennende Provinzpolitiker - im besten Sinn des Wortes. Und dies nicht nur, weil sie in der Provinz wohnen, der eine in Spaichingen, der andere in Sigmaringen-Laiz. Teufel hatte nie den Wunsch erkennen lassen, in der Bundespolitik mehr zu erstreben als das Beste für Baden-Württemberg - und die CDU. Kretschmann sagte mit Blick auf Berlin vor einigen Jahren in einem Interview der Stuttgarter Zeitung über die Bedeutung des Föderalismus: "Das ist der lange Schatten Hegels, dass man denkt, je weiter oben die Vernunft angesiedelt ist, desto reiner kommt sie zur Erscheinung, aber dabei handelt es sich um eine Fehleinschätzung." Von seinen Berliner Parteioberen fühlte sich Kretschmann oft als Provinzler mit beschränktem geistigem Radius angetan. Umso mehr darf er nun die Lobpreisungen der Grünen-Prominenz genießen.

Der Mann aus Sigmaringen erobert die Landespolitik

Mensch Winfried Kretschmann wurde 1948 in Spaichingen geboren. 1968 legte er das Abitur ab. Nach dem Grundwehrdienst studierte er in Stuttgart-Hohenheim Chemie, Biologie und Ethik für das Lehramt am Gymnasium. Seine Frau Gerlinde ist Grundschullehrerin. Die beiden sind seit 1975 verheiratet, haben drei Kinder und wohnen in Laiz, einem Teilort von Sigmaringen.

Politiker 1979/80 gehörte Kretschmann zu den Mitgründern der Grünen in Baden-Württemberg. 1980 gelangte er erstmals in den Landtag. Mitte der 80er Jahre arbeitete er bei Joschka Fischer im hessischen Umweltministerium. 2002 wurde Kretschmann Chef der Grünen-Landtagsfraktion. Auf Bundesebene profilierte er sich als Fachmann für Finanzen und Föderalismus.

Katholik Kretschmann ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Über die Religion sagte er in einem Interview: „Mein Glaube befreit mich von letzten Zwängen. Als Politiker kann ich scheitern, aber deswegen scheitere ich noch lange nicht als Mensch.“ Der Opernliebhaber singt auch im Kirchenchor von Laiz, wird dafür jetzt aber kaum noch Zeit haben.