Wowereit steht vor seiner dritten Amtszeit. Künast geht zurück in den Bundestag. Aber was bedeutet der Einzug der Piraten in Berlin?

Berlin - Als Klaus Wowereit am Sonntagabend um kurz nach halb Sieben die Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg betritt, da haben sich rund 2000 seiner Anhänger allmählich in den ordnungsgemäß zu erwartenden Jubel eingeklatscht. Die Menge wippt, getaucht in magentafarbenes Licht. Was am Anfang verhalten klang, das wirkt jetzt wie ein Triumph. Vielleicht hatte der ein oder andere zu Beginn doch Sorge, dass das Ergebnis nicht reichen könnte für ein rot-grünes Wunschbündnis. Vielleicht sah der ein oder andere doch den Balken nach unten. Und mit Sicherheit stockte dem ein oder anderen der Atem angesichts der Berliner Piraten-Sensation. Seit der Ausnahmeerscheinung der Hamburger Schill-Partei ist es keiner neuen Partei gelungen, mit einem derart fulminanten Ergebnis in ein Parlament einzuziehen. Welche Botschaft müssen die anderen Parteien daraus mitnehmen?

 

Der Amtsinhaber, Spitzenkandidat und Wahlsieger jedenfalls sieht aus, als stelle er sich all diese Fragen nicht. Umringt von regennassen Leibwächtern fräst sich Klaus Wowereit breit grinsend seinen Weg durch die Menge. Er schüttelt Hände, wippt im Takt der Musik und wirkt so gelöst, als sei er spontan bei Freunden zu Besuch. "Hach, ist das schön, bei Euch zu sein", sagt er. Und nimmt das Geschenk des Abends entgegen: einen riesigen Teddybären.

Schlussbild für den Wowereit-Wohlfühl-Wahlkampf

Es ist irgendwie ein folgerichtiges Schlussbild für diesen Wowereit-Wohlfühl-Wahlkampf. Kurz drückt der Bürgermeister nun noch seinen Lebensgefährten Jörn Kubicki, dem er "stellvertretend für alle Ehefrauen, Ehemänner, Freundinnen, Freunde und was es sonst noch so gibt", danke sagt. Aber auch wenn Wowereit an diesem Abend wirkt, als sei das alles ein Spiel und er eben der beste Spieler - er hat im Nahkampf um die Macht in den vergangenen vier Wochen 250 Termine absolviert. "Man hat gemerkt, da ist einer, der etwas wollte", sagt der Landeschef Michael Müller. Er hat es bekommen. Es reicht für seine Wunschkoalition mit den Grünen, die sich 58 Prozent der Berliner wünschen.

Es gibt natürlich auch Wahrheiten, die an diesem Abend hier bei den Sozialdemokraten keiner hören will: Die Regierung von SPD und Linkspartei ist nach zehn Jahren faktisch abgewählt, beide haben verloren. Gewonnen haben andere: die Grünen, die CDU und vor allem die Piraten. Eine Rechnung muss eigentlich alle etablierten Parteien nachdenklich machen: Zählt man die Ergebnisse der Piraten zusammen mit denen der anderen Parteien, dann haben 24 Prozent der Berliner Wähler - jeder Vierte - keine der bisher im Parlament vertretenen Parteien gewählt.

Wird die Kandidatendebatte jetzt lauter?

Gleichwohl - die SPD feiert ihren Sieger, und das gilt nicht nur für die Berliner Genossen. Das halbe Willy-Brandt-Haus ist zu Gast, die Granden aus dem Bund sind gekommen, Parteichef Sigmar Gabriel und auch die Generalsekretärin Andreas Nahles. Wenn Sieger glänzen, dann wird es auch für die, die danebenstehen, ein bisschen heller. Dass die Bundespolitiker nicht für sich bleiben, erzählt etwas darüber, wie sehr diese Wahl im Vorfeld mit Bedeutung aufgeladen wurde.

An diesem Abend geht das Superwahljahr zu Ende. Und hier, bei der SPD, laufen die Herren der Stunde so leichtfüßig umher, als spürten sie in ihren Rücken Flügel wachsen in Richtung Bundestagswahl 2013. In den letzten zwei Jahren hat die Partei Machtwechsel um Machtwechsel geschafft oder regiert mit. Die verfrühte Kanzlerkandidatendebatte wird nun durch Wowereits Wahlergebnis nicht leiser werden.

Auch die Grünen feiern

Aber Blütenträume hat eben jeder einmal - und ein paar Kilometer weiter wird an diesem Abend einer beerdigt. "Everything is amazing and nobody is happy" so ist eine Veranstaltung betitelt, die morgen im Festsaal Kreuzberg stattfinden soll: "Alle sind verblüfft und keiner fröhlich." So finster ist die Stimmung nicht bei den Grünen, die ihre Wahlparty hier feiern. Immerhin gibt es tatsächlich Grund zum Feiern: die Rückeroberung der Regierungstauglichkeit. Aber bis zu der erträumten Koalition ist der Weg noch weit. Auch wenn die Kulisse den Eindruck erweckt, sie sei bereits Realität. Die Wände sind in feudalem Rot getüncht, unter der Decke drehen sich Tangokugeln in grünem Scheinwerferlicht. Es wird viel gejohlt, gepfiffen, geklatscht. Dennoch haben die Grünen ihr "eigentliches Ziel verfehlt", so räumt schon wenige Minuten nach 18 Uhr einer ihrer Berliner Prominenten ein, der Bundestagsabgeordnete Hans Christian Ströbele. Renate Künast lässt sich die Enttäuschung nicht anmerken. Aber die Wählerstimmen zeigen: Berlin erlebt kein grünes Wunder. In allen sieben Wahlen dieses Jahres haben die Grünen satte Gewinne verbucht, in Sachsen-Anhalt ihr Ergebnis verdoppelt, in Rheinland-Pfalz sogar verdreifacht. Gemessen an solchen Sensationen und an den hohen Erwartungen, die Künasts Kandidatur und der Höhenflug der Partei geweckt hatte, ist ihre Bilanz eine Enttäuschung.

Auch Künast selbst sagt: "Wir haben noch mehr gewollt und nicht alle Ziele erreicht." Sie wirkt ermattet und lässt sich nur vor den Kameras zu Siegerposen animieren. Als sie vor einem knappen Jahr angetreten war, um Wowereit aus dem Amtssessel zu kippen, da hatte sie in den Umfragen noch klar vorne gelegen. Und damals war Fukushima noch ein Ort, den keiner kannte, und der politische Erdrutsch in Baden-Württemberg allenfalls eine Hoffnung. Nach dem Aufstieg Winfried Kretschmanns zum ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik schien alles möglich. Doch von da an ging es nur noch bergab.

Für eine Landesmutter zu schroff

Renate Künast habe einen "Super-Wahlkampf" betrieben, sagt Volker Ratzmann, bisher Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Er tritt bereits auf wie ein Senator. Doch sein Lob wird manchen in den Ohren klingen. Verglichen mit dem Berlin-Versteher Wowereit wirkte Künast im Wahlkampf stets verkrampft, mit sinkenden Umfragewerten beinahe verbiestert. Die Rolle der Landesmutter ist der ehemaligen Ministerin nicht auf den Leib geschnitten, dafür wirkt sie viel zu schroff - volkstümlich jedenfalls nicht. Sie hat es nicht verstanden, ihr detailliertes Wahlprogramm auf griffige Formeln zu bringen. Bei zentralen Themen wie dem Streit um die Stadtautobahn A100 ließ sie sich auf schlichte Dagegenpolitik reduzieren. Nun wird Renate Künast wieder gehen: zurück in den Bundestag. Im Kreuzberger Festsaal, wo für gewöhnlich Konzerte oder türkische Hochzeiten gefeiert werden, haben die Grünen tapeziert, was anders werden soll, wenn sie ins Rote Rathaus einziehen. Berlin soll eine "Mitsprachestadt" werden, so heißt es auf den Transparenten, eine Stadt "für Solarstrom und Grillkohle", "Soja und Soljanka". Draußen im verregneten Innenhof schweben grüne Luftballons unheilvoll über der Zukunft der Koalition. Auf ihnen ist zu lesen, was die rot-grüne Koalition zum Platzen bringen könnte: "A100 stoppen".

Solche Details interessieren die euphorische Truppe, die in paar Straßen weiter den gleichmäßigen Stimmenraubzug bei allen anderen Parteien feiert, wenig. Unter den Discokugeln und Kronleuchtern des angesagten Kreuzberger Clubs "Ritter Butzke" ist schon lange vor Schließung der Wahllokale kein Durchkommen mehr. Einer der wenigen Grauköpfe hat sogar eine schwarze Augenklappe angelegt. Darüber hinaus sind die Besucher der Piraten, die dicht gedrängt in dem Tanzsaal stehen, in Zivil gekommen. Die Luft erinnert an einen Maschinenraum, die Stimmung ist eher nach Sonnendeck. Immer wenn die Piraten im Fernsehen auch nur erwähnt werden, gehen die Stimmen der Moderatoren im Getöse des Saals unter.

Günstige Winde für die Piraten

Das vielstimmige Jaaaaaaa, das die Balkenbildung auf den Fernsehschirmen begleitet, will gar nicht mehr enden. Nur beim Ausscheiden der FDP und dem eigenen Ergebnis wird der Jubel bei den Piraten noch ohrenbetäubender. "Ich bin baff und überrascht", hören seine Fans den Spitzenkandidaten Andreas Baum dort wenig später sagen. Der steht im Abgeordnetenhaus vor den Kameras und schickt erstmal einen schönen Gruß zu seinen Anhängern ins "Ritter Butzke". Die Umfragen haben der Piraten-Partei um den 33-jährigen Spitzenkandidaten in der vergangenen Woche immer mehr Anlass zur Freude gegeben. Mit mehr als acht Prozent haben sie jetzt sogar mehr als eine Handbreit Wasser unter dem Kiel.

Es waren günstige Winde, die die Piraten, die während des Wahlkampfes mal im Tretboot und häufig auf ihrem Floß zu Terminen angeschippert kamen, ins Abgeordnetenhaus trugen. Bisher war die Partei, die sich für freien Netzzugang und Datenschutz, die Lockerung des Urheberrechts und die Entkriminalisierung von Raubkopien einsetzt, auf außerparlamentarische Gewässer beschränkt. Jetzt entern sie tatsächlich das Abgeordnetenhaus. "Wir sind personell und inhaltlich vorbereitet", sagt Baum mit überzeugtem Ton. Die ersten Klippen haben die Piraten umschifft. Ihre Landesliste umfasst 15 Kandidaten - schon nach der ersten Hochrechnung scheinen ihnen 14 Sitze sicher.

Als zweitstärkste Kraft zieht die CDU ins Parlament ein. Dass Frank Henkel an diesem Abend ein Sieger ist, das sieht man an seinen glänzenden Wangen und dem Blitzen in seinen Augen. "Wir haben uns diesen Sieg hart erarbeitet", ruft er seinen Anhängern entgegen. Zehn Jahre hat es gebraucht, die CDU aus den Untiefen zu holen, in die sie der Bankenskandal gestürzt hatte. Jetzt geht es erstmals wieder bergauf, auch wenn der Berg eher ein Hügel ist - aber so ist das eben mit der Berliner Großstadttopographie und der CDU. Ihren Platz wird die Partei vermutlich eher in der Opposition behalten, auch wenn der SPD-Generalsekretär jetzt Gespräche anbietet. Wen wundert's? Schließlich sind die Christdemokraten doch ein wunderbar spitzes Marterwerkzeug, das man hochhhalten kann, wenn die Grünen übermütig werden.