Stuttgart ist künftig nur noch mit fünf Abgeordneten im Parlament vertreten. Die Grünen gewinnen, Verlierer ist vor allem die CDU.  

Stuttgart - Den Freudentänzen Tausender Stuttgart-21-Gegner auf dem Schlossplatz folgten am späten Abend des Wahlsonntags Ausschreitungen am Nordausgang des Hauptbahnhofs. Sogenannte Parkschützer hatten den Zaun rund um den Kurt-Georg-Kiesinger-Platz umgerissen. Dort soll ein unterirdisches Technikgebäude für Stuttgart21 gebaut werden. In einer Mitteilung bekannte sich Matthias von Herrmann, der Pressesprecher der Parkschützer, um 23.10 Uhr zu der Aktion. Der Auftrag an die neue Regierung sei "klar und unmissverständlich: Baustopp jetzt!" Die erste Amtshandlung des neuen Ministerpräsidenten müsse es sein, "bei Bahn und Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer das Ende von Stuttgart 21 durchzusetzen". Erst als die Polizei einschritt, beruhigte sich die Lage wieder.

 

Zuvor hatten die Anhänger der Grünen ausgelassen den Wahlerfolg ihrer Partei gefeiert, während bei den Freunden von SPD und FDP gemischte Gefühle herrschten und die Christdemokraten in der Landeshauptstadt in tiefem Frust vereint waren.

Föll muss sich auf Rücktrittsforderung einstellen

Scheinbar ungerührt gab sich Oberbürgermeister Wolfgang Schuster: "Ich bin als CDU-Mitglied natürlich nicht begeistert, aber zwei unserer vier Direktmandate sind traditionell wackelig. Ich gehe jetzt fest davon aus, dass die neue Regierung an einer engen Zusammenarbeit mit der Stadt interessiert sein wird." Sprach's und kämpfte sich zu den Grünen vor, um den Ratsfraktionsvorsitzenden Muhterem Aras und Werner Wölfle zum Gewinn ihrer Direktmandate und zum Gesamtsieg zu gratulieren. Und Stuttgart 21? "Das muss jetzt die Bahn entscheiden", sagte Schuster.

Als etwa eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale die ersten Stadtteilergebnisse auf der Großbildleinwand erschienen, durfte die CDU noch hoffen. Als dann aber der Kreiswahlleiter Martin Schairer (CDU) kurz nach 20 Uhr das vorläufige Endergebnis aus dem Kopierer holte, lagen die Grünen um drei Punkte vorne. Noch deutlicher wird der Erdrutsch bei der Betrachtung der absoluten Zahlen: Die Ökopartei legt um 58239 Stimmen zu, während die CDU 10122 Wähler weniger zu beklagen hat. Dass sich daraus die Forderung nach einer adäquaten Vertretung am Ministertisch ableitet, wollte gestern keiner der Sieger dementieren.

Nach dem Debakel von 2006, als die SPD zehn Prozentpunkte verloren hatte, gab sie nun noch einmal sechs Punkte ab und kam nur noch auf 20,4 Prozent. Wieder reicht es nicht einmal für ein Mandat über die Zweitauszählung. Wie der CDU-Kreisvorsitzende Michael Föll muss sich deshalb auch der Chef der Stuttgarter Sozialdemokraten, Andreas Reißig, auf Rücktrittsforderungen der Parteibasis einstellen. Ganz offensichtlich verfing die Taktik der SPD nicht, das klare Ja zum Bahnprojekt Stuttgart 21 mit dem Verweis auf einen Volksentscheid nach der Bildung einer grün-roten Koalition zu relativieren. Die Linken haben in Stuttgart nur eine Nebenrolle gespielt; sie blieben jedenfalls weit hinter ihren Erwartungen zurück.

Seite 2: Aras ist überwältigt

Einen Sieger haben alle Parteien ausgemacht: die Demokratie. Die Themen Stuttgart 21 und der Ausstieg aus der Kernenergie haben die schlechte Wahlbeteiligung von vor fünf Jahren vergessen lassen. Den 57 Prozent von 2006 stehen dieses Mal 73,1Prozent gegenüber.

Im Wahlkreis I hat Muhterem Aras, die Kandidatin mit anatolischen Wurzeln, einen Sieg fürs Geschichtsbuch hingelegt: Sie nahm nicht nur Andrea Krueger (CDU) das Direktmandat ab, sondern holte unglaubliche 42,5 Prozent - Rekord bei den Grünen im Land. Aras sagte, sie sei überwältigt. Stuttgart 21 sei ihr Hauptthema im Wahlkampf gewesen. Sie forderte einen sofortigen Baustopp. Der FDP-Kreisvorsitzende Armin Serwani war mit dem Ergebnis unzufrieden. Mit 6,1 Prozent liegen die Liberalen zwar über dem Landestrend, ein Trost sei das aber nicht.

Im Wahlkreis II hatten sich der Regionalpräsident Thomas Bopp (CDU) und Werner Wölfle einen harten Kampf geliefert. Nachdem Wölfle auf dem Weg zum Rathaus schon von Anhängern gefeiert wurde, war er wegen des geringen Abstands und der unsicheren Lage im Land zunächst kleinlaut. Die Freude entlud sich erst, als sein knapper Vorsprung von 301Stimmen amtlich war. Im Vergleich zu 2006 hat er sein Ergebnis mehr als verdoppelt. Enttäuscht war Gabriele Heise: Die FDP-Bewerberin kommt trotz ihrer stattlichen 7,1Prozent nicht in den Landtag.

Weckenmann wurde nicht belohnt

Im Wahlkreis III hat sich der wegen privater Affären in die Schlagzeilen geratene CDU-Bewerber Reinhard Löffler über die Ziellinie gerettet. Er hatte am Ende 6,2Punkte Vorsprung vor dem Grünen Franz Untersteller, der es als einziger Stuttgarter Bewerber über die Zweitauszählung ins Parlament geschafft hat. Ruth Weckenmann erging es wie den Genossen in den anderen Kreisen: Sie hat sich bemüht, wurde aber nicht belohnt. Sie holte mit 23,1Prozent aber das beste SPD-Ergebnis.

Als "kleine Sensation" bezeichnete die überglückliche Grünen-Abgeordnete Brigitte Lösch den Gewinn des Direktmandats im undankbaren Wahlkreis IV. Relativ knapp lag sie am Ende vor der CDU-Bewerberin Christine Arlt-Palmer. Keine Rolle spielte der Platzhirsch, der Ost-Bezirksvorsteher Martin Körner (SPD).

Stuttgarter Kräfte

Direktmandate

Muhterem Aras (Grüne): Die 45-Jährige ist Steuerberaterin und Fraktionsvorsitzende im Gemeinderat. Sie ist die erste türkischstämmige Politikerin, die in den Landtag einzieht.

Werner Wölfle (Grüne): Der 57-Jährige führt zusammen mit Muhterem Aras die Stuttgarter Ratsfraktion und ist verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion.

Brigitte Lösch (Grüne): Die 49-jährige Sozialarbeiterin hat – wie Wölfle – überraschend das Direktmandat geholt in einem Wahlkreis, der zuletzt eine feste Bank für die CDU war. Sie gehört dem Landtag bereits seit 2001 an.

Reinhard Löffler (CDU): Der 56-Jährige ist in der Vergangenheit immer wieder in den Schlagzeilen gewesen – was ihm politisch nicht geschadet hat. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Landtagsfraktion hat sein Direktmandat verteidigt: ein großer persönlicher Erfolg.

Zweitmandate

Franz Untersteller (Grüne): Für den 53-jährigen Abgeordneten hat sich das Wagnis gelohnt, aus Bietigheim-Bissingen als Kandidat in den Stuttgarter Norden zu wechseln. Der Spezialist für Umwelt- und Energiepolitik wird als heißer Anwärter auf den Posten des Staatssekretärs im Umweltministerium gehandelt.