Im Stuttgarter Stadtteil Veielbrunnen zwischen Bahnhof Cannstatt und Mercedes-Benz-Arena herrscht ein buntes Miteinander verschiedenster Kulturen. Doch hier geht nur jeder Vierte zur Wahl. Warum? Wir sind vor Ort auf Spurensuche gegangen.

Digital Desk: Michael Bosch (mbo)

Bad Cannstatt - Idyllisch liegt der Veielbrunnen in der Sonne. Im großen Baum daneben zwitschern die Vögel. Aus den vier stählernen Wasserhähnen plätschert das Wasser. Wie steinerne Wächter liegen die Schildkrötenskulptur links und die Hummerskulptur rechts des Brunnen.

 

Der Brunnen, der dem Stadtteil seinen Namen gegeben hat, bildet einen Kontrast zum sonst so geschäftigen, lauten und oft hässlichen Viertel Bad Cannstatts. Auch der Veielbrunnen war lange Zeit verwahrlost. Sinan Durmus weiß das. Der Türke wohnt bereits seit 1971 im Cannstatter Stadtteil, vorne an der Ecke zur Daimlerstraße, gleich neben dem großen Baumarkt. Er hat die Veränderungen mitbekommen: „Früher war alles schon ziemlich heruntergekommen. Das war ein richtiger Schandfleck“, sagt Durmus, „aber jetzt sieht es hier ganz schön aus. Die Politiker haben sich mühe gegeben, vieles wurde renoviert.“

Im Veielbrunnen ist also nicht alles schlimm. Im Gegenteil. Nicht nur der Brunnen ist wieder in Schuss, der Stadtteil steht im Mittelpunkt der großen städtebaulichen Diskussion um das neue Viertel Neckarpark. Hier wird sich einiges tun, vieles schöner werden.

Jeder Vierte geht wählen

Doch der Stuttgarter Stadtteil Veielbrunnen hat ein Problem. Hier geht nur jeder Vierte zur Wahl, die Beteiligung bei der letzten Kommunalwahl war die niedrigste von ganz Stuttgart. Das ergibt der Kommunalwahlatlas Stuttgart von stuttgarter-zeitung.de. Woher kommt es, dass im Veielbrunnen so wenige Bürger wählen gehen?

Nachfrage beim Ur-Veielbrunner Sinan Durmus. Auch wenn er politisch engagiert ist und sich informiert, die Kommunalwahl hätte er 2009 beinahe verschlafen. „Das habe ich quasi erst in letzter Sekunde mitbekommen“ erzählt Durmus. Der Türke ist ein Stammwähler, seiner Partei treu. Doch er vermisst vor allem die Streitkultur in der Politik: „Heute ist das doch alles ein Einheitsbrei. Alle Parteien sind inzwischen salonfähig. Egal ob Grüne oder Linke. Man wird nicht mehr schräg angeschaut, egal wen man wählt.“

So politisch interessiert wie Sinan Durmus, für den Demokratie mehr ist, als einmal alle vier oder fünf Jahre ein paar Kreuzchen auf einen Wahlzettel zu machen, sind längst nicht alle Bewohner des Stadtteil Veielbrunnen. 27,6 Prozent Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2009 – das ist enttäuschend, sogar im Vergleich zur Wahlbeteiligung in der Gesamtstadt von knapp 49 Prozent.

„Es ändert sich ja doch nichts“

Der Besuch im Veielbrunnen zeigt: Viele Menschen fühlen sich schlicht nicht gut genug informiert. „Wen soll ich denn wählen?“, sagen einige spontan auf der Straße angesprochene Bewohner, „es ändert sich ja doch nichts.“ Für andere ist es schlicht die Sprachbarriere, die sie daran hindert, eine Entscheidung zu treffen. „Ich spreche nicht so gut deutsch. Deshalb weiß ich überhaupt nicht, für was die Parteien stehen“, sagt ein Mann im Vorbeigehen, der seinen Hund spazieren führt. „Ich würde gerne wählen, darf aber leider nicht, da ich nur einen kroatischen Pass habe“, meint eine Frau, Mitte 40, an der nächsten Ecke.

EU-Ausländer haben bei Kommunalwahlen in Deutschland aktives und passives Wahlrecht. Ein Umfeld, in dem viele Mitbürger in Sachen Kommunalpolitik mitbestimmen dürfen, führt zu einem anderen Klima von politischem Engagement und politischen Diskussionen. Der Veielbrunnen hat dafür denkbar schlechte Voraussetzungen: Gerade einmal jeder zweite Bewohner dieses Stadtteils war 2009 bei der Kommunalwahl wahlberechtigt. Das hat entweder mit dem hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen zu tun oder mit einem hohen Anteil von Nicht-EU-Ausländern. Der Besuch im Stadtteil lässt darauf schließen, dass beide Faktoren eine Rolle spielen.

„Cannstatt ist das Herz von Stuttgart“

Der Imbiss „Köz“ in der Daimlerstraße Foto: Bosch
Auf den Straßen des Viertels wird mindestens genauso oft Türkisch, Arabisch oder Kroatisch gesprochen wie Deutsch. Im Lebensmittelgeschäft „El-Quds“ in der Daimlerstraße, das mit dem Supermarkt gleich nebenan konkurriert, werden die Kunden auf Arabisch und Deutsch bedient. Hier gibt es von Datteln, Käse und Joghurt, über Wasserpfeifen und Haushaltsgeräte, bis hin zur Klobürste eigentlich alles.

Wer allerdings des Arabischen nicht mächtig ist, der wird kaum eines der Etiketten auf den zahlreichen Dosen, Flaschen und Plastikverpackungen entziffern können. Die stapeln sich in den Regalen des kleinen Lädchens bis unter die Decke. Wir sprechen die Kunden in dem kleinen Lebensmittelladen auf die Wahlbeteiligung der letzten Kommunalwahl an. Wollen sie 2013 wählen gehen? Kopfschütteln. Nur etwa ein Drittel der Kunden hat am 25. Mai vor, abzustimmen – wenn sie denn dürfen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite im „Köz“, einer Mischung aus türkischem Schnellimbiss und Restaurant brutzeln Lammfleisch-Spieße auf dem Grill, hinter der Theke steht eine Frau und schenkt Tee aus. „Cannstatt ist für mich das Herz von Stuttgart“, sagt Herr Subuncu, der Besitzer des „Köz“. Er schätzt die Vielfalt im Bezirk. „Hier geht es sehr multikulturell zu. Wir haben hier Kurden, Türken, Italiener, Griechen, Albaner, Araber, Kroaten und natürlich auch Deutsche“, erzählt Subuncu.

Seiner Meinung nach war das Viertel vor acht bis zehn Jahren noch wesentlich unbeliebter. Das habe sich aber spätestens mit dem Bau des Cannstatter Carré geändert: „Jetzt ist hier richtig was los.“ Und das Viertel ist noch im Werden. Mit der Bebauung des alten Güterbahnhofs wird Veielbrunnen weiter wachsen. Und, so hoffen viele Bewohner: schöner werden.

Altes Cannstatt, junges Cannstatt

In einer Fensternische knapp über dem Boden sitzt eine Frau mit Kopftuch und hält einen zerflederten Pappbecher in der Hand. „Bitte, Bitte“, bettelt sie die vorüberlaufenden Passanten um etwas Kleingeld an.

Von einem Wahlplakat grinst der Spitzenkandidat der SPD, Martin Schulz. In großen weißen Lettern steht daneben: Aus Deutschland. Für Europa. „Ich bin mir nicht so sicher, ob das eine gute Idee ist mit der Neuenbebauung“, nörgelt ein Rentner, der versucht, seine zwei bellenden Hunde im Zaum zu halten. Er wird am 25. Mai zur Wahl gehen, aber nur der Kommunalwahl wegen. „Da geht es um Themen, mit denen ich etwas anfangen kann. Unter diesem Europaparlament kann ich mir reichlich wenig vorstellen“, sagt er, stapft dann weiter und zieht seine Vierbeiner hinter sich her. Beinahe verheddern sich die beiden Hundeleinen in seinen Füßen.

Bei der Europawahl 2009 betrug die Wahlbeteiligung im Veielbrunnen 29,7 Prozent.

Plakat vor dem Jugendhaus Foto: Bosch
Im „Das Cann“, dem neuen Jugendhaus von Bad Cannstatt gleich hinter dem Bahnhof, ist einiges los. Am Zaun vor dem Gebäude hängt ein Plakat mit einem Pottwal. Darüber ist zu lesen: „Baden-Württemberg wählt ab 16 – Kommunalwa(h)l 25. Mai 2014“. Am Tischkicker stehen zwei Jungs und duellieren sich. Das Match ist ziemlich einseitig: es steht 8:2. „Willst du mitspielen?“, fragt einer.

Die beiden sind 17 und 21 Jahre alt. Der Ältere weiß, dass bald Kommunalwahl ist und will auch selbst wählen gehen. Der Jüngere weiß nichts davon. Auch nicht, dass er in diesem Jahr bei der Kommunallwahl erstmals selbst wählen dürfte. „Ich bin doch noch zu jung oder?“, fragt er sichtlich verunsichert. Das Plakat am Zaun vor dem Eingang hat er bis jetzt wohl nicht bemerkt, genauso wie den Flyer mit der Aufschrift „Mitbestimmen und wählen“, der an einem Ständer neben dem Tischkicker aushängt.

An den Schwächsten geht die Politik vorbei

Blick ins „Café 72“ Foto: Bosch
Vor dem „Café 72“ in der Waiblinger Straße sitzen zwei Männer und rauchen selbstgedrehte Zigaretten ohne Filter. Die beiden teilen sich ein Bier aus einer Plastikflasche und prosten den Fußgängern zu: „Nastrowje!“. Die Frage nach den Öffnungszeiten der sozialen Einrichtung verstehen sie nicht. „Nix viel deutsch“, sagt der eine und zieht an seiner Zigarette.

Das Café ist eine Anlaufstelle für Obdachlose, die einzige Einrichtung dieser Art in Bad Cannstatt. Die Gäste bekommen Brot und Kaffee umsonst, ein warmes Mittagessen gibt es für 1,50 Euro. Außerdem können die Gäste hier duschen und Wertgegenstände sowie Kleider in Schließfächern ablegen.

Christoph Lackner und Manuel Borrego Béltran sind zwei von fünf Mitarbeitern im Café. „Die Einrichtung ist ein Begegnungsort. Durch das Café haben wir die Möglichkeit Leute vom Bahnhof und den anderen Brennpunkten in Cannstatt wegzuhalten“ erklärt Lackner, „wir gehen aber auch auf die Straße und treffen die Obdachlosen dort.“

60 bis 70 Leute besuchen die Einrichtung am Tag. Wählen geht hier so gut wie keiner. „Die Leute, die hierher kommen, haben einfach keinen Kopf dafür“, sagt Borrego Béltran, „da stehen andere Probleme im Vordergrund.“ Sein Kollege Lackner ergänzt: „Viele der Leute sind auch einfach enttäuscht. Sie haben oft schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht und setzten das mit Politik gleich.“

Einer geht wählen

Die Verantwortlichen im „Café 72“ versuchen eine Beteiligungskultur zu schaffen. Die Strukturen sind nicht-hierarchisch, jeder hat das gleiche Recht. „Wir wollen den Leuten das Gefühl geben, dass sie gebraucht werden und ihre Stimme hier etwas zählt“, betont Lackner. Deshalb gibt es einmal im Monat eine Vollversammlung.

Am Ende findet sich doch noch eine Person im „Café 72“, die zur Kommunalwahl gehen wird. Bianca Schmidt steht mit ihrer schwarzen Jacke in der prallen Sonne, in der Hand hält sie eine Kaffeetasse, das blonde Haar weht ihr ins Gesicht. „Ich will auf jeden Fall meine Stimme abgeben“, sagt Schmidt, „ich muss mir aber noch überlegen, wen ich überhaupt wähle.“ Politik sei ansonsten kein Thema im Café: „Die Wahl oder das sonstige politische Tagesgeschäft, darüber wollen die Leute hier nicht sprechen.“