Wenige Stunden vor den Wahlen in Großbritannien ist das Rennen weiterhin offen. Das gilt für die Wahl wie für die Regierungsbildung gleichermaßen. Mit einer möglichen Koalition tun sich alle Beteiligten schwer.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Sogar die Wettbüros, die immer alles wissen, haben kapituliert: Sie geben die gleiche Gewinnquote für David Cameron, den konservativen Premierminister, und seinen Labour-Herausforderer Ed Miliband. Die meisten Umfragen glauben, dass Camerons Torys knapp vor Milibands Labour Party liegen werden. Miliband hat aber offenbar die besseren Aussichten, eine hauchdünne Unterhaus-Mehrheit hinter sich zu bringen.

 

Dies hieße aber nicht unbedingt, dass Cameron am Freitag aus No.10 Downing Street ausziehen müsste. Cameron könnte sich als amtierender Regierungschef für ein paar Wochen in No.10 „verbarrikadieren“. Er könnte versuchen, ein Rechtsbündnis mit der dann wahrscheinlich geschrumpften Liberaldemokratischen Partei, den Ulster-Unionisten und der Anti-EU-Partei Ukip zusammenzubekommen. Das neue Parlament muss spätestens am 27. Mai zusammentreten. Würde Cameron seine neue Regierungserklärung durchbringen, bliebe er im Amt. Und wenn nicht?

Das Fernziel der Schotten heißt Spaltung

Dann wäre Labour am Zug – und Cameron wahrscheinlich Geschichte. Die Queen müsste Ed Miliband mit der Regierungsbildung beauftragen. Miliband hätte aber ein Problem. Laut den Umfragen bräuchte er die Unterstützung von Nicola Sturgeon und ihrer Schottischen Nationalpartei (SNP). Deren Fernziel ist die Unabhängigkeit, also die Spaltung des Vereinigten Königreichs – auch wenn die SNP gegenwärtig beteuert, sie wolle in Westminster eine konstruktive „gesamtbritische“ Rolle spielen und an der Seite Labours für „eine progressivere Politik“ sorgen.

Miliband will kein formelles Bündnis mit der SNP eingehen. Er hält sich freilich die Option offen, „von Tag zu Tag“ auch mit deren Stimmen zu regieren. Die Torys, die von der SNP nichts zu erwarten haben, kritisieren eine von der SNP gestützte Labour-Minderheitsregierung als „illegitim“, und die Rechtspresse übt sich schon jetzt in diese Sprachregelung ein.

Es wären aber auch andere Konstellationen denkbar. Die Grünen etwa stehen auf Seiten Labours, während Ukip im Zweifel die Torys unterstützen würde. Beide Parteien werden aber, wegen des britischen Mehrheitswahlrechts, nur auf ganz wenige Sitze kommen. Die Liberaldemokraten, die bisher mit den Torys koalieren, verlieren wohl die Hälfte ihrer Mandate. So führt, wenn Cameron am Wahltag nicht noch alle Umfragen Lügen straft, wohl kein Weg an der SNP vorbei.

Eine große Koalition ist nur was für Kriegszeiten

Theoretisch denkbar wäre auch eine große Koalition von Konservativen und Labour. Aber die liegt den Briten nicht. Ihr parlamentarisches System leitet sich von der Zweiparteien-Tradition ab. Konzepte und politische Kultur beider Parteien liegen weit auseinander. Große Koalitionen sind im britischen Verständnis etwas für Kriegszeiten, für den „nationalen Notstand“. Allerdings wird man mit dem Erstarken neuer Parteien das Zweiparteiensystem und wohl auch das Wahlrecht, das keinen Proporz kennt, überdenken müssen. Laut dem Londoner „Independent“ wünschen sich sechs von zehn Briten eine solche Reform.

Für die Briten würde es da einen erheblichen Unterschied machen, ob Miliband oder Cameron künftig regiert. Denn die Torys haben angekündigt, ihre drastischen Einschnitte ins soziale Netz 2016/17 noch verdoppeln zu wollen – um das Haushaltsdefizit binnen drei Jahren auszumerzen. Labour hält das für eine katastrophale Idee. Es werde, warnt Miliband, Wachstumschancen zerstören und Armut und soziale Gräben im Land weiter vertiefen. Miliband will beim Sparen langsamer vorgehen, mehr investieren und auch Steuern für die Wohlhabenden erhöhen. Ihm wird von den Torys vorgeworfen, damit nur die Schuldenlage zu verschlimmern und finanzpolitisch „verantwortungslos“ zu handeln.

Auch Europa ist gespannt

Die Wahl ist auch im Hinblick auf Europa spannend. Labour und SNP stellen die EU-Mitgliedschaft nicht in Frage. Torys und Ukip haben sich aber auf ein Referendum festgelegt. Cameron will dieses bis 2017 abhalten und sein Ja zum Verbleib von Zugeständnissen der EU abhängig machen. Ukip sagt Nein zur EU. Und die Liberaldemokraten? Die sind zwar proeuropäisch, können sich nun aber auch ein Referendum vorstellen – als Preis für ein erneutes Zusammengehen mit Cameron. Doch wie ein Referendum ausgeht, ist derzeit unmöglich vorherzusagen.