Bandwurmsätze und Wortungetüme: die Wahlprogramme der Bundestagsparteien sind nicht bürgernah. Hohenheimer Forscher erklären, woran das liegt.

Stuttgart - Die Wahlprogramme zur Bundestagswahl sind unverständlicher geworden. Zu dieser Bewertung kommt ein Forscherteam des Hohenheimer Kommunikationswissenschaftlers Frank Brettschneider. Dieser ist zudem davon überzeugt: „Alle Parteien könnten verständlicher formulieren.“ Doch dies unterließen sie zuweilen auch aus taktischen Gründen: nämlich um unklare oder auch unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.

 

Grundlage für die Auswertung war eine speziell für Texte entwickelte Analyse-Software. Sie filtert alle Sätze mit mehr als 20 Wörtern und alle Wörter mit mehr als sechs Zeichen heraus, aber auch Schachtelsätze, Fachbegriffe, Fremdwörter und zusammengesetzte Wörter. Daraus entwickelten die Forscher den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“. Er reicht von 0 für völlig unverständlich bis 20 für sehr verständlich.

Piratenpartei ist am unverständlichsten

Spitzenreiter bei der Unverständlichkeit ist demnach die Piratenpartei mit nur 5,8 Punkten auf der Verständlichkeitsskala. Sie erreichte diese Tiefstposition vor allem durch englische Wörter und Insiderbegriffe. So werden die Namen internationaler Verträge ohne deutsche Übersetzung aufgeführt. Typische Wortungetüme sind „Comprehensive Test Ban Treaty“ oder „Fissile Material Cutoff Treaty“. Andere Beispiele für Anglizismen, die kürzer, aber ebenso unverständlich sind: „Privacy-by-Design“ oder „Corporate Governance“.

Verschlechtert hat sich die Verständlichkeit von SPD und FDP, die mit dem Wert 7,3 gleichauf liegen. Sie glänzten mit Begriffen wie „liquid democracy“ und „Marktradikalisierung“ (SPD) sowie „RFID-Chips“ und „Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz“ (FDP).

Grüne legen beim Umfang zu, aber nicht bei der Verständlichkeit

Auch die Grünen, die bei der Sprachstudie 2009 noch am besten abgeschnitten hatten, sind jetzt mit 8,4 Punkten nur noch zweitbeste bei der Verständlichkeit. Dafür haben die Grünen im Umfang zugelegt: Mit 82 746 Wörtern sei ihr Wahlprogramm um rund 20 000 Wörter länger als bei der letzten Bundestagswahl und doppelt so umfangreich wie das Programm der übrigen untersuchten Parteien, fanden die Forscher heraus. „Die formale Verständlichkeit des Mammutwerks hat dagegen stark gelitten“, so Brettschneider. Inzwischen sei es in großen Teilen vor allem für Experten verständlich. Dazu trügen auch zusammengesetzte Wörter und Nominalisierungen bei. So würden einfache Begriffe zu regelrechten Wortungetümen – zum Beispiel „Bundes-Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“.

Gegen den Trend konnten zwei Parteien ihre Verständlichkeit steigern: Die Linke kommt nun auf 7,7 Prozentpunkte und liegt damit genau im Durchschnitt der untersuchten Parteien – vor vier Jahren lag dieser noch bei 9 Punkten; CDU/CSU erreichen aktuell 9,9 Punkte und sind damit Sieger bei der Verständlichkeit. Doch auch bei ihnen stellten die Forscher Ausrutscher fest, zum Beispiel „Sharing Economy“, „Smart Homes“ oder „German Mittelstand“ (CDU/CSU).

Linkspartei fällt mit dem längsten Satz auf

Die Linkspartei fiel durch den längsten Satz auf – mit 71 Wörtern. „Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis – vor allem für Wenigleser“, sagt Claudia Thoms, die Mitarbeiterin an Brettschneiders Lehrstuhl ist. Und: „Sätze sollten möglichst nur jeweils eine Information vermitteln.“ An der Stelle haben auch die Piraten laut der Studie noch enormen Nachholbedarf.

Die Begriffsanalyse der Forscher zeigt, dass in allen Programmen die „Menschen“ im Vordergrund stehen – und natürlich „Deutschland“. Eine Darstellung über wordle.net, bringt die 100 häufigsten Wörter des jeweiligen Wahlprogramms auch optisch zum Ausdruck (siehe Abbildung). „Auffällig ist, dass sich die Linke und die Piratenpartei in ihrem Programm besonders häufig selbst nennen“, stellt Brettschneider fest. Damit hätten diese die FDP überrundet, die 2009 noch am ausgeprägtesten diese Art der Selbstbeschäftigung gepflegt habe. Statt dessen tauche bei ihr jetzt häufig die Bezeichnung „Liberale“ auf.

Forscher vermissen Bürgernähe

Insgesamt lieferten die Parteien ein enttäuschendes Bild, so Brettschneider. Denn Politik gelte als bürgerfern, unverständlich und intransparent. „Alle Parteien haben sich in den letzten Jahren Transparenz und Bürgernähe auf ihre Fahne geschrieben. Mit ihren teilweise schwer verdaulichen Wahlprogrammen schließen sie jedoch einen erheblichen Teil der Wähler aus und verpassen damit eine kommunikative Chance.“

Zum Vergleich: politikwissenschaftliche Doktorarbeiten erzielen durchschnittlich einen Wert von 4,7. Aber die Politikbeiträge in der „Bild“-Zeitung erreichen 16,8.