SPD und Grüne halten das verabschiedete Gesetz zum Bundeswahlrecht für verfassungswidrig. Sie wollen das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Karlsruhe - Mit scharfer Kritik hat die Opposition auf die Gesetzesnovelle der schwarz-gelben Koalition zur Reform des Wahlrechts reagiert. SPD und Grüne bekräftigten bei der entscheidenden Beratung im Bundestag am Donnerstag, dass sie den Koalitionsentwurf über eine erneute Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kippen wollen. "Seit drei Jahren wissen wir, dass unser Wahlrecht verfassungswidrig ist", sagte SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann.

 

Dass die Koalition ihren Reformvorschlag erst nach dem Verstreichen der vom Verfassungsgericht gesetzten Frist vorgelegt habe, kritisierte er als "beispiellose Respektlosigkeit gegenüber Karlsruhe". Dies gilt nach Oppermanns Worten umso mehr, als das schwarz-gelbe Gesetz keines der vom Gericht aufgeworfenen Verfassungsprobleme tatsächlich löse.

Anlass für das neue Wahlrecht war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2008. Der Gesetzgeber wurde darin verpflichtet, das sogenannte negative Stimmengewicht im Bundeswahlrecht zu beseitigen. Dieser kuriose Effekt kann in bestimmten Fällen dazu führen, dass die Abgabe einer Zweitstimme einer Partei bei der Zahl ihrer Mandate sogar schadet.

Volker Beck: Sie wollen sich die Mehrheit ergaunern

Union und FDP wiesen in der Bundestagssitzung die Kritik der Opposition zurück. Der CDU-Abgeordnete Günter Krings bedauerte, dass die Oppositionsfraktionen ein Konsensangebot der Koalition verweigert haben. Er verwahrte sich auch gegen Vorwürfe, wonach das neue Wahlrecht der Regierung nutze und der Opposition schade. "Sie wollen sich die Mehrheit im Parlament ergaunern", erklärte seinerseits der Grüne Volker Beck. Er warf der Koalition vor, zu keiner Zeit zu ernsthaften Gesprächen über eine gemeinsame Reform bereit gewesen zu sein.

Thomas Oppermann und Volker Beck hatten bereits vor der abschließenden Beratung im Parlament angekündigt, dass die beiden Fraktionen beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Normenkontrollverfahren gegen die Gesetzesnovelle einreichen werden. Die Wahlrechtsnovelle sei nicht nur handwerklich schlecht gemacht, sondern genüge auch nicht den Anforderungen, die das Verfassungsgericht in seinem Urteil zum Wahlrecht formuliert habe, erklärten beide.

Gericht setzte Frist

Um ein Normenkontrollverfahren anzustoßen, ist ein Viertel der Mitglieder des Bundestags notwendig. Gemeinsam verfügen SPD und Grüne über genügend Stimmen. Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2008 die Überhangmandate nicht generell infrage gestellt, sondern nur eine Abschaffung des "negativen Stimmengewichts" angemahnt. Dabei hatte das höchste Gericht eine Frist bis zum 30. Juni dieses Jahres gesetzt. Die Frist verstrich auch deshalb, weil es zwischen Union und FDP erhebliche Differenzen über die Wahlrechtsreform gegeben hat.

SPD und Grüne wollen nun möglichst schnell das Verfassungsgericht anrufen. Oppermann appellierte an die Regierungskoalition, beim Bundesrat einen Antrag auf Fristverkürzung zu stellen, damit sich die Länderkammer bereits am 14. Oktober mit dem Wahlrecht befassen könne. Danach fehle nur noch die Unterschrift von Bundespräsident Christian Wulff. Dann sei der Weg frei, um rasch eine Normenkontrollklage einzureichen.

Negatives Stimmengewicht

Ausgezählt Im Juli 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht das negative Stimmengewicht für verfassungswidrig. Aber worum geht es dabei eigentlich? Nach einer Bundestagswahl wird zunächst ermittelt, wie viele Mandate einer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis bundesweit zustehen; diese werden daraufhin je nach Ergebnis der Partei auf die einzelnen Bundesländer verteilt. Das Wahlrecht schreibt zugleich vor, dass die Kandidaten, die einen Wahlkreis über die Erststimme für sich entscheiden können, auf jeden Fall in den Bundestag einziehen dürfen. Hat eine Partei mehr Wahlkreise gewonnen, als ihr eigentlich nach der Zweitstimmenberechnung Abgeordnete zustehen, entstehen Überhangmandate.

Verrechnen Nun ist folgender Fall denkbar: eine Partei hat in einem Bundesland eine bestimmte Anzahl an direkt gewonnenen Wahlkreisen, ihr Zweitstimmenanteil liegt allerdings darunter. Also gibt es Überhangmandate. Bekäme diese Partei nun mehr Stimmen, stünde ihr nach der bundesweiten Verrechnung ein Mandat mehr zu, das in einem anderen Bundesland, wo die Partei ein schwächeres Ergebnis erzielt hat, wegfällt. Im ersten Bundesland hätte das zusätzliche Zweitstimmenmandat wegen der Überhangmandate keine Auswirkungen. Im zweiten Land könnte die Partei aber ein Mandat verlieren, wenn es dort nicht ebenfalls Überhangmandate gibt. Unterm Strich dürfte die Partei trotz Stimmenzugewinns einen Abgeordneten weniger stellen. Aufgetreten ist dieses Phänomen zum Beispiel im Jahr 2005 bei einer Nachwahl in Dresden.

Gesetzesänderung Nach dem jetzt beschlossenen Gesetz soll jedes Bundesland künftig separat seine Volksvertreter wählen und in den Bundestag entsenden. Anders als bisher sollen die Zweitstimmen nicht mehr zwischen den Ländern verrechnet werden. Ausschlaggebend für die Anzahl der Mandate aus einem Land soll unter anderem die Wahlbeteiligung sein. Überhangmandate soll es weiter geben. Zusätzlich sieht das Gesetz vor, dass die Reststimmen, die nicht für ein Mandat ausreichen, bundesweit verrechnet werden.