Eine unterhaltsame Reise durch die Geschichte hat der langjährige deutsche Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher bei seinem Auftritt im Waiblinger Bürgerzentrum seinen Zuhörern geboten.

Waiblingen - Mit Sanktionen ist das so wie mit einer Leiter: Sprosse für Sprossegeht es hoch und irgendwann ist sie zu Ende. Was dann? Springen oder Absteigen!“ Um bildhafte Vergleiche ist er nie verlegen, der langjährige deutsche Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher. Und so hat auch beim Auftritt des Elder Statesman in der Veranstaltungsreihe „Im Gespräch“ am Ende der Waiblinger Kreissparkassenvorsitzende Bernd Fickler „die beste Geschichtsstunde meines Lebens“ erlebt. Vorangegangen waren im Waiblinger Bürgerzentrum tatsächlich zwei unterhaltsame Gesprächsstunden, als Schnelldurchlauf vom Beginn der sozialliberalen Koalition anno 1969 bis hin zur aktuellen Ukrainekrise strukturiert.

 

Auch die aktuelle Weltpolitik ist Thema

Der Leitervergleich, der stand natürlich für die Situation des Westens im Konflikt mit Russland um die Ukraine. Da ist die Empfehlung des Mannes, der nazu 18 Jahre lang deutscher Außenminister war: „Auch da hätte man früher miteinander reden müssen.“ Nur über das gemeinsame Gespräch komme man zu Lösungen und eben jene Gespräche habe der Westen vernachlässigt. „Es sind nicht neue Sanktionen gefragt, sondern neue Lösungen.“ Und für die gebe es in der internationalen Diplomatie eben auch eine Grundvoraussetzung für die handelnden Personen: „Man muss sich in die Schuhe des anderen stellen können.“

Der Start im Gespräch mit dem Moderator Martin Klapheck war natürlich nicht das aktuelle weltpolitische Geschehen. Die „Reise durch die Gesichte“ begann mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition 1969. Es sei einfach Zeit für einen Politikwechsel gewesen, vor allem in der Außenpolitik, sagte dazu der Mann, der zunächst als Innenminister in das Kabinett des Kanzlers Willy Brandt einzog. Nicht nur angesichts der terroristischen Bedrohung durch die Bader-Meinhof-Gruppe sei es ein Amt gewesen, „in dem man nicht nur Sonnenschein erwarten konnte“. Amüsant-allzumenschliche Auseinandersetzungen mit dem für die Finanzen zuständigen Kabinettskollegen waren zwar auch zu hören, nach dem Motto: „Genehmige mir die Stellen für den Umweltschutz, dann bearbeite ich die Akten über Beförderungen in deinem Ressort.“ Aber es war eben auch die Zeit als sich Genscher – letztlich vergeblich – bei der Geiselnahme während der Olympischen Spiele in München sich als Geisel zur Verfügung stellen wollte. „Ich halte das auch heute noch für richtig. Es war die Pflicht als Minister das Äußerste zu tun, um zu verhindern, dass diese Menschen umgebracht werden.“

Einfühlungsvermögen ist gefragt

Als weiteres Beispiel für die Bedeutung von Gesprächen und Einfühlungsvermögen, erklärte Genscher, welche Rolle die Familiengeschichte der Schewardnadses und die innenpolitische Situation des damaligen russischen Außenministers bei der Auswahl von Brest nahe der polnischen Grenze 1990 als Treffpunkt gespielt hatte. Dort war 1917 der deutsch-russische Frieden von Brest-Litowsk geschlossen worden. Dies hatte die Angelegenheit für Polen tendenziell zur Provokation gemacht. Dort war aber auch Schewardnadses Bruder begraben. Und dieses Signal, „auch unsere Familie hat Blut vergossen“, sei für den westfreundlichen Schewardnadse innenpolitisch einfach überlebenswichtig gewesen.

Warum er 1998 von seinem Amt zurückgetreten sei? „Es war einfach Zeit“, erklärte der tiefenentspannte 87-jährige Ehrenvorsitzende der Liberalen und gab dazu schmuzelnd einen Witz zum Besten, der einst die Runde gemacht hat: Der Ötzi, just damals im österreichischen Ötztal gefunden, der habe, als er wieder aufgetaut war, eine ganz dringende Frage gehabt: „Ist der Genscher immer noch Außenminister?“