Während eines Besuchs des EU-Handelskommissars Karel de Gucht bei der Waiblinger Firma Stihl fordern Unternehmensvertreter einen konsequenteren Schutz geistigen Eigentums.

Rems-Murr : Frank Rodenhausen (fro)

Waiblingen - Auf 50 Milliarden Euro wird der Schaden geschätzt, welcher der deutschen Wirtschaft jedes Jahr durch gefälschte Markenprodukte entsteht. Doch es geht nicht nur um den wirtschaftlichen Verlust. „Plagiate sind überwiegend von erschreckend schlechter Qualität – in manchen Fällen, etwa bei Arzneimitteln oder Präzisionsprodukten, kann das für den Verbraucher lebensbedrohend sein“, sagt Rüdiger Stihl.

 

Der promovierte Jurist weiß, wovon er spricht. Er ist nicht nur Mitglied im Beirat des Waiblinger Kettensägenimperiums, sondern auch der Ehrenvorsitzende des Aktionskreises gegen Produkt- und Markenpiraterie. Zusammen mit dem aktuellen Chef des Familienunternehmens, Nikolas Stihl, und Vertretern anderer renommierter Firmen wie Daimler, Bosch oder BMW hat er gestern bei einem Vor-Ort-Besuch des EU-Handelskommissars Karel de Gucht für ein konsequenteres Vorgehen gegen Produktfälscher geworben.

Natürlich sei man sich dessen bewusst, dass manche Unternehmensinteressen in diesem Bereich die Grundsätze des freien Handels tangierten, sagt Stihl. Doch man fordere keine neuen Grenzen, sondern ein effektives gesetzliches Schutzinstrumentarium und eine intensivere Bekämpfung der Kriminalität.

Nur fünf bis zehn Prozent der Produktfälscher würden entdeckt, sagt Stihl. Mehr Zollbeamte und eine Nachweispflicht seitens der Transporteure könnten die Quote seiner Ansicht nach verbessern. Nicht alle EU-Länder hätten die Produkt- und Markenpiraterie im Blick, sagt Rüdiger Stihl. Auch die Strafverfolgung jener, die entdeckt werden, müsse verschärft werden. Das handfeste Vorgehen der Behörden in den USA, die Produktfälscher in der Regel nicht ohne Gefängnisstrafen davonkommen ließen, sollten hier ein Vorbild sein.

Konkrete Zusagen des EU-Handelskommissars hat es bei seinem Besuch in Waiblingen erwartungsgemäß nicht gegeben. Wohl aber die Versicherung, die Bedeutung innovativer Produkte für die positive Außenhandelsbilanz erkannt zu haben. „Geistige Eigentumsrechte sind Stützpfeiler für Kreativität und Innovationen“, ließ sich de Gucht in einer Presseerklärung nach dem nicht-öffentlichen Gespräch zitieren. Und weiter: „Die EU muss diese Werte schützen, um Wachstum und Wettbewerb in der Wirtschaft zu fördern.“

Rüdiger Stihl weiß, dass dieses Lippenbekenntnis in zahlreichen Vorstandsetagen aufmerksam zur Kenntnis genommen wird. Das Thema Produktfälschungen ziehe sich quer durch alle Branchen, selbst die Nahrungs-, Pharma- oder Chemieindustrie sei von der oft gut organisierten kriminellen Schattenwirtschaft tangiert. Drei von vier Unternehmen litten unter Produktpiraterie, schätzt Stihl. Dennoch gingen viel zu wenige damit an die Öffentlichkeit – wohl aus Furcht, sich damit den eigenen Umsatz zu verderben.

Die Markenfeinde für die Stihl-Produkte sitzen laut den Erkenntnis des Waiblinger Weltkonzerns fast ausschließlich in China. Mehr als 100 Hersteller sollen sich dort auf Billigkopien der renommierten deutschen Produkte spezialisiert haben. Doch ihnen droht möglicherweise nicht mehr nur aus dem Ausland Ungemach. Die Chinesen, räumt Rüdiger Stihl ein, entwickelten immer mehr eigene Markenprodukte – die ihrerseits zunehmend selbst von Fälschungen bedroht würden.

Der Markenschutz-Aktionskreis und der EU-Politiker

Verband
Der Aktionskreis gegen Produkt- und Markenpiraterie (APM) setzt sich seit 1997 als branchenübergreifender Verband für den Schutz geistigen Eigentums ein.

Zahlen
Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2009 sind 76 Prozent der deutschen Unternehmen von Produkt- und Markenpiraterie betroffen. Neben Luxusartikeln werden zunehmend auch Genussmittel, Körperpflegeartikel, Spielzeug oder Medikamente gefälscht. Das Bundesministerium für Wirtschaft schätzt die jährlichen Umsatzverluste, die der deutschen Wirtschaft durch Produkt- und Markenfälschungen entstehen, auf 50 Milliarden Euro. 13,4 Prozent der Anmeldungen beim Europäischen Patentamt stammen aus Deutschland.

EU-Handelskommissar
Der frühere belgische Außenminister Karel de Gucht ist seit dem Jahr 2010 das für die Außenhandelspolitik zuständige Mitglied der Europäischen Kommission. Der Außenhandel gilt als eines der wichtigsten Ressorts der EU. Der 60-jährige Jurist de Gucht ist Mitglied der Flämischen Liberalen und Demokraten (Open VLD)