Der evangelische Dekan Timmo Hertneck kennt keine wohltuendere und freundlichere Botschaft als die, die an Weihnachten erzählt wird. Im Interview verrät er auch, warum er früher mal in Latzhose gefeiert hat und wie er das Fest heute verbringt.

Rems-Murr : Frank Rodenhausen (fro)
Waiblingen - Weihnachten gerät nicht aus der Mode. Immer mehr Menschen ziehe es an Heiligabend in die Kirche, sagt Timmo Hertneck. Warum das seiner Meinung nach so ist, warum er früher auch mal in Latzhose gefeiert hat und wie er das Fest heute verbringt, verrät der Waiblinger Dekan im Interview.
Herr Hertneck, das Interview erscheint zwar erst zum Weihnachtsfest, aber bei unserem Gespräch befinden wir uns noch in der Adventszeit. Was bedeutet die für Ihre Arbeit?
Die Adventszeit ist eine Schule der Hoffnung. Sie schult die erwartungsvolle Lebenshaltung. Deshalb werden in der dunkelsten Jahreszeit von Woche zu Woche mehr Lichter entzündet, bis es nach der Wintersonnwende zum großen Lichtfest kommt: der Geburt Jesu, dem Ausrufen der Erlösung und des Friedens. Ursprünglich war der Advent eine Fastenzeit. Plätzchen oder „Gutsle“ waren den weihnachtlichen Tagen vorbehalten.
Heutzutage bricht in der Adventszeit vielfach eher Hektik aus.
Die Vorbereitung, wie wir sie in unseren Tagen begehen, ist durch die große Lust gekennzeichnet, sich gegenseitig an Weihnachten zu beschenken. Alle Besorgungen und Adventsfeiern kommen zu den Alltagsdingen und dem Berufsleben hinzu. Dadurch kommt es zu einer Verdichtung. Das finde ich aber gar nicht so schlimm. Es gehört zu der Art, wie wir heute leben.
Der eigentliche Anlass des Festes gerät dabei doch immer mehr in den Hintergrund?
Das glaube ich nicht. Ich stelle vielmehr fest, dass die Leute verstärkt nach dem Grund der weihnachtlichen Feiern und der Position der Kirche fragen. Das Tolle daran ist, dass sich an dieser Diskussion über Weihnachten eine ganze Gesellschaft beteiligt – ganz gleich, ob die Menschen in der Kirche oder ausgetreten sind, ob sie Muslime oder Juden sind. Alle sind offen und wollen wissen, was feiert ihr eigentlich da?
Ist es tatsächlich so, dass alle den Grund wissen wollen?
Mich hat gestern ein Redakteur der Stuttgarter Zeitung angerufen, weil er genau darüber reden wollte.
Aus beruflichen Gründen wahrscheinlich...
Sie machen es ja auch für Ihre Leser. Und Sie sind wirklich nicht der einzige, der Interesse zeigt. Ob das an meiner Rolle als Kirchenmann liegt, kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber ich bin sicher: Es gibt eine kulturelle Neugier, den Hintergrund des Christfestes zu verstehen. Das zeigt natürlich zugleich auch, dass das Wissen um die Geburt Jesu nicht mehr selbstverständlich ist. Unsere Aufgabe als Kirche ist daher, die große Geschichte weiterzuerzählen und in die heutige Zeit zu übertragen.
Kommen die Leute, um zuzuhören?
An Weihnachten absolut. Die Gottesdienste haben in den letzten Jahrzehnten so einen Zuspruch erfahren, dass es für die Kirche schon logistisch eine große Herausforderung ist. Vergangenes Jahr war die Kirche so voll, dass Leute auf den Altarstufen saßen und Bierbänke hereingetragen werden mussten, obwohl wir einen Zusatzgottesdienst gehalten haben.
Unterm Jahr ist das nicht immer so. Warum fokussieren sich viele in Sachen Kirchgang so auf den einen Tag?
Ich glaube, dass das Christfest in unserer Gesellschaft das sinnlichste aller Feste ist. Es wird gottesdienstlich ausgerufen: Dies ist die Heilige Nacht, in der Gott Mensch wurde. Du kannst Gott begreifen und erkennen. Die Botschaft berührt und spricht alle Sinne an. Wir können den Tannenduft in der Kirche riechen. Wir sehen die geschmückte Kirche. Wir hören die Weihnachtsgeschichte, die Predigt dazu und singen Lieder. Die Leute schmücken sich, kommen festlich angezogen zum Gottesdienst.
Machen da alle mit?
Überwiegend, ja. In meiner Generation war das noch etwas anders. Wir sind zum Teil in der Latzhose gekommen, um den Leuten zu zeigen: Es kommt nicht auf die Kleidung an. Das ist heute weniger der Fall. Bei mir übrigens auch.
Was bedeutet das Fest aus theologischer Sicht?
Es ist das Fest der Menschwerdung Gottes, die das Christentum unterscheidet von den anderen Monotheismen. Gott zeigt sich in der Gestalt eines verletzlichen Kindes, um zu zeigen: Du, lieber Mensch, bist zwar ein verletzliches Wesen, aber so, wie du bist, bist du geliebt. Du musst nicht immer den großen Macker spielen oder als schickes Modell stöckeln. Du darfst so sein wie du bist, egal ob Hirte oder König. Du darfst kommen und den größten Reichtum entdecken, den ein Mensch überhaupt entdecken kann, nämlich die Erfahrung einer überirdischen Freude in diesem irdischen Leben. Der Erlöser ist geboren, du musst nur hinschauen. Er ist spürbar im Diesseits und nicht erst im fernen Jenseits.
Wie feiert der Privatmann Timmo Hertneck Weihnachten?
Am 23. abends stellen wir den Christbaum auf und hören Kantaten aus dem Weihnachtsoratorium. An Heiligabend kommen Familienmitglieder und wir besuchen die Christvesper. Nach dem Gottesdienst gibt es Kartoffelsalat und Würstchen. Eines der Kindern liest das Weihnachtsevangelium, wir singen drei Lieder und dann werden die Geschenke der Reihenfolge nach ausgepackt: der jüngste zuerst. Das alles genieße ich sehr. An den Christfesttagen geht es weiter mit Gottesdienst, Besuchen und Müßiggang.
Nicht in allen Familien herrscht Harmonie. Weihnachten ist für manche auch das Fest der enttäuschten großen Erwartungen.
Das kann ich als Juristensohn leider bestätigen. Mein Vater war Rechtsanwalt und hat uns schon früh berichtet, dass sich die Anträge auf Trennung und Scheidung ab dem 6. Januar in der Kanzlei häuften.
Woran liegt das?
Wenn die Erwartung nicht freudig und offen ist, sondern überbordend und streng, dann besteht die Gefahr, dass ein Sozialsystem an seine Leistungsgrenze kommt. Oft bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen vom häuslichen Ritual. Die Alten genießen die Traditionen. Die Jungen wollen anders feiern.
Zum Beispiel in der Latzhose...
Ja, wenn diese Wünsche von der Elterngeneration nicht aufgefangen werden oder nicht ausreichend für ein Ritual geworben wurde, kann es schwierig werden. Man sollte im vornherein abklären: wie feiern wir die festlichen Tage? Unterschiedliche Erwartungen abzuklären, lohnt sich immer. Und wir sollten uns klarmachen, dass ein großes Fest immer auch anstrengend für alle ist. Gastgeber sollten um diese Anstrengungen wissen und Gäste sich bemühen, gute Gäste zu sein. Ein Patentrezept gibt es aber nicht. Ich kann nicht sagen: „Macht es wie die Hertnecks und alles wird gut.“ Es gibt schließlich völlig unterschiedliche Wünsche und Lebensformen. Ich kann nur raten: Lasst Weihnachten auf euch wirken, lasst Euch ein auf den Frieden, die himmlische Freude, den Sohn Gottes und seine Botschaft. Ich persönlich kenne keine wohltuendere, freundlichere Botschaft, die ich meditieren könnte.