In der Familie sah Kohl die Keimzelle des Staates. Sie musste natürlich funktionieren. Am Ende mischt sich Bitternis in den Blick auf dieses Ideal, das der Politiker selbst nicht erreichte.

Berlin - Was für ein Bild. Eine schwere Tür in dunkler Eichenholzoptik, davor ein schwerer Mann, auf dem eine Last zu liegen scheint. Unter der pfälzischen Junihitze hält er seinen Kopf gesenkt, nur ein blickloser Teil seines Gesichts ist zu erkennen. Und dieser Teil offenbart so viel Ohnmacht, so viel Schmerz und Zorn, dass den Betrachter unwillkürlich eine seltsame Form von Scham anspringt.

 

Man hat den Impuls wegzuschauen, will vermeiden, Zeuge dieser ausweglosen Szene zu werden, weil hier eine zutiefst private Angelegenheit bloßgelegt wird: zu besichtigen ist eine Familie, die so unzusammensetzbar zerbrochen ist, dass selbst der Tod ihres Oberhauptes es nicht vermag, einen Minimalkonsens zu erzeugen, um die Würde aller Beteiligten zu wahren.

Der Mann dort vor der Tür ist Walter Kohl, der Sohn Helmut Kohls. Er steht vor der verschlossenen Tür seines Elternhauses im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim, hat Hausverbot. Er darf nicht an den Ort, an dem sein toter Vater aufgebahrt ist, an dem sich seine Mutter das Leben genommen hat, an dem er zusammen mit seinem Bruder aufgewachsen ist, an dem er sehr klein war und den Mann, den alle Deutschen kannten, als entscheidende Figur seines Lebens wahrgenommen hat: als Papa.

Die Tür von Oggersheim als Symbol fürs Zentrum der Macht

Der Horror dieses Moments wird ins Innerste reichen. Aber dass er nicht privat bleibt, das geschieht nicht aus Versehen. Denn es war klar, dass mit dem Tode Helmut Kohls die Medien und die Öffentlichkeit nicht wegschauen werden, sondern hin, ihren Blick auf diese schwere Tür richten werden, die jeder kennt, der schon ein bisschen älter ist. Lang galt sie auf Fotos als Synonym für ein Tor ins Zentrum der Macht, hinter dem mitunter die Weltläufte geregelt wurden, hinter der Staatenlenker wie Gorbatschow, Jelzin oder Thatcher verschwanden, oder, im schlechteren Fall, Kohl als Kanzler zu Welt- oder Zeitläuften schwieg und eine Krise aussaß. Die Tür war Zeichensprache und ist es noch, erst recht in den vergangenen Jahren, in denen der Altkanzler von Kranknheit gezeichnet nach seinem schweren Sturz verstummte.

Als Walter Kohl nun unangemeldet vor diese Tür trat, dauerte es nicht lange, da meldete sich der Anwalt von Maike Kohl-Richter zu Wort – der Witwe des Verstorbenen. Er warf dem Sohn in aller Öffentlichkeit vor, mit seinem Erscheinen vor dem Elternhaus bewusst einen Eklat zu inszenieren.

Angesichts dieser Interpretation drängt sich eine Rückfrage an die Witwe und ihren Verteidiger auf, nämlich: Und wenn schon? Wer wollte es ausgerechnet dem Sohn verdenken, wenn er sich in diesem auch für ihn existenziellen Moment der Deutungshoheit des Vaters entzieht, welcher ihm den Dialog bis zuletzt verweigert hatte?

Ein Kanzlerkind, das sich nie entziehen konnte

Kinder suchen sich Eltern nicht aus, sind mit ihrer ganzen Vater- und Mutterliebe dem Schicksal ausgesetzt, über das die Erwachsenen bestimmen. Walter Kohl, der sich als Kind eines berühmten Menschen der öffentlichen Ausbreitung dieses Schicksals noch nie entziehen konnte, hat sich erneut vor diese Tür gestellt – nachdem er vergangenen Freitag aus dem Autoradio vom Tode seines Vaters erfahren hatte, nachdem er kurz danach von einem Polizisten erst am Betreten des Elternhauses gehindert und dann doch eingelassen worden war. Er kam nun Tage später wieder, diesmal nicht allein, sondern mit zwei Enkeln des Verstorbenen, denen er Einlass verschaffen wollte. Es gelang nicht.

Walter Kohl hat gewusst, dass Kameras abbilden würden, was sich hier abspielt, vielleicht hat er auf ihre indirekte Hilfe gehofft, auf den Druck, der entsteht, wenn man sich vor den Augen der Öffentlichkeit anständig benehmen muss, einen Druck, den er von Kindesbeinen an kannte.

Das Bild der heilen Familie hatte heftige blinde Stellen

Denn, und auch deshalb ist das Trauerspiel vor der Tür keine reine Privatsache, sondern Teil einer Gesamtschau auf dieses Politikerleben: es war Helmut Kohl zu Zeiten seiner Macht immer sehr daran gelegen, das Bild der heilen Familie politisch zu vereinnahmen – jene „Keimzelle des Staates“, für die er sie hielt, musste selbstverständlich um jeden Preis funktionieren. Und so wurde sie auch für die Öffentlichkeit inszeniert. Man fuhr gemeinsam Rad, spielte Karten am Wolfgangsee, führte eine Ehe, über die die hochintelligente und wortgewandte, aber oft stumme Hannelore Kohl einmal mit den Worten zitiert wird: „Es ist immer schön, nicht im Wege zu sein.“ Viel später, da hatte das Bild der heilen Familie längst heftige blinde Stellen bekommen, beschrieb sie ihr Gefühl an der Seite ihres Mannes mit einem furchterregenden Wort: „mutterseelenallein“. Mit ihrem Freitod, den sie so gewählt hatte, dass nicht ihr Ehemann sie fand, verschwand das eigentliche Zentrum der Familie, der Mensch, der alles zusammengehalten hatte.

Nachdem der Vater seine zweite Ehefrau, die mehr als 30 Jahre jüngere Maike Richter geheiratet hatte , waren es die Söhne, die sich öffentlich zum Zerwürfnis der Familie äußerten. Peter Kohl, der jüngere der beiden Brüder beschrieb, wie aus seiner Sicht der Kontakt zum Vater immer mehr erschwert worden sei, bis er vollständig abbrach.

Ein bitterer Kommentar zum privaten Leben Kohls

Walter Kohl ist ein Mensch, den seine Biografie als Kanzlerkind in der Lebensmitte in eine existenzielle Krise geführt hat: In seinem nach dem Tod der Mutter erschienenen Buch „Leben oder gelebt werden“ hat er seine Geschichte als Mensch mit einem abwesenden Vater erzählt.

Das Bild von ihm, das am Mittwoch entstand, als er zum letzten Mal seinen Vater besuchen wollte, ist nicht einfach so entstanden. Es ist ein Ergebnis. Es könnte sich womöglich viel eher ins kollektive Gedächtnis eingraben als das zu erwartende offizielle Motiv von der Totenmesse im Dom zu Speyer – als ein letzter, bitterer Kommentar zum Leben dieses großen Politikers.

Sehen Sie im Video die wichtigsten Stationen im Leben des Ex-Kanzlers: