Studien zeigen, dass die Bevölkerungsentwicklung stark von der Religiosität einer Gesellschaft, aber ebenso von staatlichen Hilfen bestimmt wird.

Stuttgart - Gegen fünf wird es laut in der Wohnung des orthodoxen Rabbiners Shneur Trebnik, denn dann kommen seine sieben Kinder aus dem jüdischen Kindergarten und der jüdischen Ganztagsschule. Doch der 36-Jährige hat kein Problem mit dem Chaos, das jeden Abend um ihn tobt: „ Eine große Familie hat mehr Vorteile als Nachteile.“

 

Ganz anders ist das bei Gabriele Kemper. In ihrer säkular geprägten Kleinfamilie fühlt sich die ebenfalls 36-Jährige bereits mit einem Kind völlig ausgelastet. „Nach der Geburt meines Sohnes hatte ich überhaupt keine Rückzugsmöglichkeiten mehr. Ich war schon froh, als ich wenigstens wieder in Teilzeit arbeiten konnte“, sagt sie.

Schon lange ist bekannt, dass die Geburtenrate einer Gesellschaft umso niedriger liegt, je wohlhabender und moderner sie ist, was auch die Zahlen des aktuellen Datenreports der Stiftung Weltbevölkerung bestätigen. „Im Zuge der Modernisierung werden Kinder von einem Nutzen- zu einem Kostenfaktor“, sagt Steffen Kröhnert, leitender Wissenschaftler am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Verblüffend ist jedoch die Beobachtung, dass es auch innerhalb derselben Gesellschaft große Unterschiede zwischen traditionellen und fortschrittlichen Milieus gibt, die unsere Kultur auf lange Sicht erheblich verändern könnten.

Traditionelle Strukturen setzen auf Hilfe in den Gemeinden

In einer viel beachteten Studie zeigte der Religionswissenschaftler Michael Blume, dass die Menschen umso mehr Kinder bekommen, je religiöser sie sind. Den Grund dafür sieht er in drei Faktoren: zum einen seien es die von der jeweiligen Religion vermittelten Werte, die soziale Struktur und schließlich die Kinderbetreuung innerhalb der Gemeinden. „Man muss von den Menschen nicht nur verlangen, dass sie Kinder bekommen, sondern sie auch dabei unterstützen“, sagt er. „In traditionellen Gemeinden, die hohe Erwartungen an die Familien stellen, ohne diese zu unterstützen, brechen die Geburtenraten ein.“

Die gleichen Tendenzen bestätigt das Vienna Institute of Demography für die USA . Auch hier haben stark religiös gebundene Bevölkerungsgruppen die höchsten Geburtenraten, während sich die Fruchtbarkeit der liberalen Milieus kaum von der deutschen unterscheidet.

Da stellt sich natürlich die Frage, ob das an der Religion liegt, oder an der Gesellschaftsstruktur der jeweiligen Gruppe. Allerdings sind diese beiden Faktoren so eng miteinander verbunden, dass sie kaum zu trennen sind. „Eine hohe Religiosität geht mit einer Tendenz zur Vergemeinschaftung einher, während Konfessionslose eher zum Individualismus tendieren“, sagt Michael Blume. Daher führt der demografische Wandel nicht nur zu einer Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft, sondern auch zu einer Umschichtung zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Der amerikanische Demograf Philipp Longman warnt schon seit Längerem vor einer Wiederkehr des Patriarchats, denn wenn Konservative dauerhaft mehr Kinder bekommen als Liberale, setzen sich auch deren Werte immer stärker in der Gesellschaft durch. Wie bei Shneur Trebnik, der mit seiner Kinderschar viele neue Glaubensträger geschaffen hat.

Skandinavien hat die höchste Geburtenrate

Doch hat er das wirklich? Schließlich könnten die Kinder des Rabbiners auch ganz andere Ansichten entwickeln als ihr Vater, so ein weit verbreiteter Einwand. Allerdings zeigen viele Studien, dass unser Wertekanon vor allem von unserer Familie geprägt wird. So konnte das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung nachweisen, dass zwei Drittel der Kinder die Religiosität ihrer Eltern übernehmen. Zudem ändert sich mit dem Eintritt in ein neues Milieu auch die durchschnittliche Kinderzahl. Liberal gewordene Kinder traditioneller Eltern werden also weniger Nachwuchs zeugen als deren konservativ gebliebenen Geschwister, wodurch dieser Effekt von Generation zu Generation fortgeschrieben wird. Deshalb befürchtet auch Michael Blume eine zunehmende Polarisierung zwischen traditionellen und liberalen Bevölkerungsschichten.

Aber ganz so einfach scheint es eben doch nicht zu sein. Aufbauend auf den Daten der World Value Survey zeigen Pippa Norris und Ronald Inglehart in ihrem Buch „sacred and secular“ (2004), dass in den meisten Fällen die Geburtenraten tatsächlich umso höher liegen, je traditioneller die Wertvorstellungen einer Gesellschaft sind. Allerdings gibt es einige bedeutende Ausnahmen. So haben Italiener, Spanier und Portugiesen recht traditionelle Vorstellungen und zugleich die niedrigsten Geburtenraten in Europa, während Franzosen und Skandinavier mit ihren modernen Werteauffassungen die höchsten Geburtenraten in Europa haben. Zugleich bieten diese Länder ihren Familien die beste Unterstützung. In Südeuropa treffen dagegen moderne Gesellschaftsstrukturen auf traditionelle Familienbilder, die es schwer machen, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen. Dieser Zwiespalt erklärt die niedrigen Geburtenraten.

Der Staat kann keine Werteorientierung geben

„Zwar hat eine Gesellschaft umso weniger Kinder, je moderner sie wird, aber mit ihrer weiteren Modernisierung kehrt sich dieser Trend wieder um“, sagt Steffen Kröhnert. Allerdings kehrt er sich nicht vollständig um, denn auch die modernsten Gesellschaften haben noch eine deutlich niedrigere Geburtenrate als die traditionellen. Zudem haben auch hier die religiösen Milieus deutlich mehr Kinder als die säkularen, weshalb auch hier die demografische Entwicklung die antimodernen Tendenzen verstärkt. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden. Während traditionelle Religionsgemeinschaften nicht nur familienfördernde Werte vermitteln, sondern Eltern auch umfassend unterstützen, sind diese in der modernen Ellenbogengesellschaft weitgehend auf sich gestellt. Wie Gabriele Kemper, die weder auf die Hilfe ihrer weit entfernt wohnenden Eltern noch auf ein dicht geknüpftes soziales Netz bauen konnte. Zwar hatte sie ihren Sohn gleich nach der Geburt in einer Kita angemeldet, aber auf einen Krippenplatz für den mittlerweile Zweijährigen wartet sie bis heute vergebens. „Es ist lächerlich, was Staat und Kirche hier leisten“, sagt sie enttäuscht. Von früh bis spät musste sie daher auf den Kleinen aufpassen, bis sich endlich eine Tagesmutter fand, die sich wenigstens stundenweise um ihn kümmerte. „Das war schon sehr anstrengend bis dahin.“

In den modernsten Gesellschaften hat der Staat mit einem gut ausgebauten Angebot an Betreuungseinrichtungen eine Aufgabe übernommen, die früher die Religionsgemeinschaften und die Familien geleistet haben und es Frauen damit erleichtert, sich für Kinder zu entscheiden. Eines kann er jedoch nicht: den Menschen eine Werteorientierung geben, weshalb er das Sinken der Geburtenrate eben auch nur teilweise bremsen, nirgends jedoch umkehren kann. Wollen die liberalen Gesellschaften individualistischer Prägung bestehen, wird ihnen daher nichts anderes übrig bleiben, als sich der paradoxen Aufgabe zu stellen, gleichzeitig moderner und traditioneller zu werden. Dazu werden sie sowohl die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern als auch eine Wertediskussion führen müssen. Ob sich Gabriele Kemper noch weitere Kinder vorstellen könnte? „Ja – vielleicht.“