Die kanadische Provinz Ontario will bis 2014 aus der Kohleenergie aussteigen und treibt deshalb die Wasserkraft voran: Im kommenden Jahr soll über einen neuen Tunnel Wasser von den Niagarafällen abgezapft werden.

Niagara Falls - Es ist warm in hundert Meter Tiefe im Felsgestein an den Niagarafällen. Die Lampen im Tunnel geben nur ein spärliches Licht. Bernhard Mitis, Ingenieur des österreichischen Baukonzerns Strabag, ist zufrieden. „Wir sind im Zeitplan. In einem Jahr wird durch diesen Tunnel Wasser zur Stromerzeugung fließen.“ In der Ferne tauchen aus dem Dunkel Scheinwerfer auf. Langsam kommen sie näher, werden größer. „Schoolbus“ steht auf dem gelben Fahrzeug. Aber es transportiert keine Schüler, sondern Arbeiter. Schichtwechsel im Tunnel.

 

Der Busfahrer winkt freundlich, Mitis grüßt zurück. „Pro Sekunde werden durch den Tunnel 500 Kubikmeter Wasser schießen. Dafür garantieren wir durch den Vertrag“, erklärt der 36-jährige Ingenieur. Er trägt einen Schutzhelm mit einem auffallenden Symbol: Die rot-weiße kanadische Fahne mit dem Ahornblatt geht in die rot-weiße Flagge Österreichs über. Mitis ist Bauleiter des Projekts, für das die Strabag den Zuschlag bekam: Im Auftrag der Provinz Ontario und des Stromerzeugers Ontario Power Generation (OPG) einen Tunnel zu bauen, der oberhalb der Niagarafälle Wasser aus dem Fluss aufnimmt und es unter der Stadt Niagara Falls zum Sir-Adam-Beck-Kraftwerk leitet, wo es die Turbinen treiben und dann, etwa neun Kilometer unterhalb der Fälle, in den Niagarafluss zurückfließen wird. Die Wassermenge soll pro Jahr 1600 Gigawattstunden Energie liefern und laut OPG den Strombedarf von 160.000 Haushalten decken.

Für die bevölkerungsstärkste kanadische Provinz Ontario, die in den kommenden zwei Jahren aus der Stromversorgung aus Kohle aussteigen will, ist dies ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur „grünen, sauberen Energieversorgung“, heißt es bei der OPG. Dort spricht man auch von einem „Monstertunnel“: Das Wasser aus dem Tunnel würde ein olympisches Schwimmbecken in wenigen Sekunden füllen.

Ein Vertrag regelt, dass genug Wasser für die Touristen bleibt

Dieser Tage kam auch Baden-Württembergs Minister für Bundesrat, Europa und internationale Angelegenheiten, Peter Friedrich, zu Besuch. Der zehn Kilometer lange Tunnel sei ein „faszinierendes Energieprojekt“ – und Wasserkraft habe eine große Bedeutung für die Energiewende, sagte er, nachdem er in London, Ontario, bei der auf erneuerbare Energien spezialisierten Firma Kaco aus Neckarsulm eine neue Produktionslinie eingeweiht hatte.

Auf dem Niagarafluss unterhalb der Fälle nähert sich das Schiffchen „Maid of the Mist“ dem Hufeisenfall. Er gehört zu den größten Touristenattraktionen Nordamerikas. Jedes Jahr blicken Millionen Touristen in Regencapes gebannt von der „Maid of the Mist“ nach oben. Donnernd stürzen 2800 Kubikmeter Wasser pro Sekunde rund 55 Meter in die Tiefe. Aber der Niagara bietet mehr als ein Naturwunder. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird der Fluss, der die Grenze zwischen den USA und Kanada bildet, zur Stromerzeugung genutzt. 1950 regelten beide Staaten die Wasserentnahme. Etwa zwei Drittel der Wassermenge dürfen abgeleitet werden, nachts mehr als am Tag. Genug Wasser soll über die Fälle fließen, damit Touristen aus aller Welt das Naturschauspiel erleben können. Bis zu 6000 Kubikmeter pro Sekunde stehen laut OPG für die Stromerzeugung in Ontario und im US-Staat New York bereit.

Bisher zweigt Kanada durch zwei Tunnel unterhalb der Fälle etwa 1800 Kubikmeter pro Sekunde ab. Nun kommen 500 Kubikmeter hinzu. Mitis steht im Einlaufbauwerk des Tunnels. Steil ragen Betonwände 20 Meter in die Höhe, darüber wölbt sich der blaue Himmel. Über diese Rampe wird Wasser vom Niagarafluss in den Tunnel strömen. Der tiefste Punkt des Tunnels liegt 150 Meter unter der Erdoberfläche. „Der gesamte Wasserfluss erfolgt durch Schwerkraft und Höhenunterschied.“

Für den Energieversorger ist es ein Milliardenprojekt

2004 schrieb die OPG das Projekt aus, 2005 erhielt die Strabag den Zuschlag. Als Kostenziel sind 985 kanadische Millionen Dollar für den Tunnel festgelegt – nach jetzigem Wechselkurs etwa 790 Millionen Euro. Die Gesamtkosten mit dem Umbau des Kraftwerks liegen bei 1,6 Milliarden Dollar (1,3 Milliarden Euro). Als Termin der Fertigstellung wurde Juni 2013 vereinbart. „Der Tunnel wird so gebaut, dass er 90 Jahre wartungsfrei betrieben werden kann“, sagt Mitis. Ununterbrochen soll das Wasser fließen. Der Stromverkauf bringt täglich einen Umsatz von 440.000 Dollar.

Neben dem Einlaufschacht liegt der langsam verrostende Kopf einer riesigen Bohrmaschine. Es sind die Reste von „Big Becky“, der gigantischen – laut OPG weltweit größten – Hartgestein-Tunnelbohrmaschine, 150 Meter lang, über 4000 Tonnen schwer. Der Tunnel ist gebohrt, am 13. Mai 2011 bejubelten Kanadier und Österreicher den Durchbruch. Während hundert Meter über ihr Touristen die Wasserfälle ansteuerten, fraß sich „Big Becky“ durch den Fels. „Direkt hinter der Bohrmaschine erfolgte die Stabilisierung des Gesteins mit Stahlmaschendraht, Stahlrippen, Bolzen und Spritzbeton“, berichtet Mitis. Eine wasserdichte, nur wenige Millimeter dicke Membranfolie wurde verlegt, darüber kam eine weitere Betonschicht. Dies verringerte den Durchmesser des Tunnels auf 12,7 Meter.

Das größte Problem war nicht das ganz harte Gestein, sondern der Queenston Shale, ein weicheres Schiefergestein, das aufquellen und zur Ziegelproduktion verwendet werden kann. Die Sicherung des – wie Fachleute formulieren – „nachbrüchigen Gebirges“ war eine besondere Herausforderung. Durch die hohen Spannungen und anhaltenden Bewegungen im Gebirge kam es zweimal zu einem „Fall of Ground“: Mehrere Meter dicke Gesteinsschichten stürzten von der Tunneldecke herab. „Es waren einige Tausend Kubikmeter Gestein“, erinnert sich Mitis.

Das Gestein ist manchmal zu weich

Rund zwei Millionen Kubikmeter Geröll fielen durch die Bohrarbeiten an und wurden nahe des Auslaufschachts deponiert. Ein Teil des Queenston Shale soll zur Ziegelproduktion verwendet werden. Der Rest wird begrünt. Die Gesteinsmengen sind gewaltig, „aber zum Skifahren sind die Hügel zu klein“, sagt der passionierte Skifahrer Mitis bedauernd.

Bis Juni ist noch viel zu tun. Die Innenverkleidung muss fertig gestellt werden, an Ein- und Auslaufschacht wird noch gearbeitet. 450 Menschen arbeiten auf der Baustelle. Das Führungspersonal kommt vorwiegend aus Österreich oder anderen europäischen Staaten, der Großteil der Belegschaft aber sind Arbeitskräfte aus der Region.

Bernhard Mitis richtet den Blick schon nach vorne. „Es ist eine interessante Erfahrung, aber meine Frau und ich wollen zurück in die Heimat“, sagt der gebürtige Salzburger. Einige Strabag-Ingenieure bleiben jedoch in Kanada. Der Konzern hat bereits einen Anschlussauftrag: Für 290 Millionen Dollar baut er einen 15 Kilometer langen Abwasserstollen im Raum Toronto. Mit 3,6 Meter Durchmesser ist er viel kleiner als der Niagara-Tunnel. Nichts für „Big Becky“. Sie hat ausgedient.