Josefstraße klingt weihnachtlich. An dem Degerlocher Sträßchen betreibt Marianne Jenal seit zehn Jahren eine Psychotherapie-Praxis. Sie arbeitet viel mit Menschen, die Krebs haben oder hatten. Für ihre Patienten ist das Weihnachtsfest oftmals krisenträchtig.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Degerloch - An Weihnachten lassen sich die Probleme nicht mehr verdrängen. Vor Marianne Jenal sitzen dann Leute, die das Jahr über ziemlich gut damit klargekommen sind, dass zum Beispiel die Tochter nichts mehr von ihnen wissen will. An Weihnachten schlagen die Einsamkeit und die Trauer dann allerdings doppelt so heftig zu. Vielleicht weil die Menschen beobachten, wie bei den Nachbarn an Heiligabend in trauter Runde gefeiert wird, vielleicht weil es ihnen dauernd so vorkommt, als ob alle jemanden haben, nur sie nicht.

 

Praxis für Psychotherapie an der Josefstraße

Wie schwer ihnen der Anblick der scheinbar unerreichbaren Geselligkeit fällt und welche Gefühle das in ihnen auslöst, erzählen sie dann unter Umständen Marianne Jenal, die seit zehn Jahren eine Praxis für Psychotherapie an der Josefstraße in Degerloch betreibt.

Um Weihnachten herum sei die Welt viel gefühliger. „Man kommt eher in Kontakt mit den ganz wunden Stellen innen drinnen“, sagt sie. „Dinge, die eh da sind, verdichten sich. Was sich sonst ganz gut beiseiteschieben lässt, „an Weihnachten kommt keiner mehr an dem Thema vorbei“. Der Alltag sei in der Weihnachtszeit ganz anders getaktet. Und es sei schier unmöglich, sich dieser Stimmung zu entziehen, also treten verdrängte Gefühle oft genau in dieser Zeit an die Oberfläche.

Zu Marianne Jenal kommen Menschen mit Depressionen oder Ängsten. Doch ihr Schwerpunkt ist die Psycho-Onkologie. Das bedeutet, dass sie in vielen ihrer Therapiesitzungen mit Leuten arbeitet, die Krebs haben oder hatten. Sie beginnen die Therapie nach der Diagnose oder auch erst dann, wenn die ärztliche Behandlung bereits beendet ist. Bei Letzteren geht es oftmals darum, sich der Angst zu stellen, dass der Krebs wieder zurückkommen könnte. Marianne Jenal spricht mit ihnen darüber, wie Angst funktioniert und wie man mit ihr umgehen kann.

Die Krankheit ist auch eine Kränkung

Eine weitere Herausforderung für einen an Krebs Erkrankten ist es, dass er lernen muss, damit zu leben, von nun an nicht mehr unversehrt zu sein. „Damit ist ja auch eine Kränkung verbunden“, sagt die Therapeutin. In ihrer Praxis können die Patienten all diese Sorgen loswerden „ohne Rücksicht auf das Gegenüber. Sie finden hier ein Gegenüber, das es mit ihnen aushält“.

Für Menschen, die krank sind, ist Weihnachten meist keine schöne Zeit. Weihnachten wird dann schnell zur Messlatte, zum Spiegel der Vergänglichkeit. Jemand, bei dem ungewiss ist, ob er je wieder gesund wird, fragt sich womöglich, ob es das letzte Weihnachten ist, das er erleben wird. Eine Frage, die auf der Hand liegt, die der Kranke in aller Regel aber mit sich selbst ausmacht. Sei es, weil er niemanden hat, mit dem er darüber reden könnte, sei es, weil er es seinen Lieben nicht zusätzlich schwer machen will. „Manche sagen zu mir: ,Ich glaube, in der Familie denkt es jeder, und hier kann ich es endlich einmal aussprechen‘“, erzählt Marianne Jenal. Allein das Teilen solcher Gedanken kann den Patienten entlasten.

In ihren Therapiesitzungen hat die Frau aus Sonnenberg aber auch immer wieder Menschen vor sich, die im Laufe des Jahres einen Angehörigen verloren haben. Für sie ist es also das erste Weihnachten ohne denjenigen. Wenn der Tod zum Beispiel eine Lücke in eine junge Familie reißt – „gar keine Frage, dass das Fehlen der Mutter reinpfeift“, sagt sie.

Das Familienfest drückt auf die Stimmung

Weil ihnen Weihnachten Sorgen bereitet, kommt aber niemand in die Praxis an der Degerlocher Josefstraße. „Der Anlass ist ein anderer“, sagt Marianne Jenal. Doch sie merkt schon recht bald, wenn das nahende Familienfest auf die Stimmung ihrer Patienten drückt. „Die sagen dann immer Dinge wie: ,Es ist so grau draußen.‘“

Aus Sicht der Psychotherapeutin hat Weihnachten also eine durchaus schwierige Seite. „Aber es lohnt sich, sich dem zu stellen“, sagt Marianne Jenal. „Und es lohnt sich zu schauen, was einem helfen kann, einen anderen Umgang damit zu finden.“ Diese Lösung fliege aber nicht wie das Christkind durchs Fenster. Diese Lösung ist harte Arbeit.