Vieles wiederholt sich Jahr für Jahr. Es gibt aber besondere Erlebnisse, die man nie vergisst. Die frühere StZ-Redakteurin Suse Weidenbach erinnert sich noch heute gern an die Puppenstube, mit der sie als Kind nur an Weihnachten spielen durfte.

Stuttgart - Vieles wiederholt sich Jahr für Jahr. Es gibt aber besondere Erlebnisse, die man nie vergisst. StZ-Autoren blicken zurück.

 

Schneegestöber in Gablenberg, von Suse Weidenbach

Das Schönste an Weihnachten war die Puppenstube. Ich, Jahrgang 1945, habe sie sehnlichst erwartet, denn ich konnte sie nur von Heiligabend bis zum 6. Januar bespielen. Am Erscheinungsfest – „Dreikönig“ sagten nur die Katholischen – wurde sie gnadenlos wieder eingepackt und auf die „Bühne“ gehievt. Als Knüller erwies sich mein elektrischer Herd mit drei Mini-Kochplatten und Backofen. Bis 1950 stand er separat auf einem Hocker. Dann baute der Vater neben der bewährten Stube mit Wohn- und Schlafzimmer eigens eine Puppenküche mit Essecke auf der einen, Wannenbad auf der anderen Seite, den überdimensionalen Herd als Mittelpunkt. Schon als Fünfjährige durfte ich darauf Äpfel kochen und Cocktailwürstchen (die gab es nur an Festtagen) heiß machen – in kleinen Alu-Töpfen. Der Clou aber waren die Pfannkuchen, die ich mit Omas Teig in eisernen Pfännchen buk und meinen beiden Bäsle mit Zucker und Zimt servierte.

Suse Weidenbach war Redakteurin der Stuttgarter Zeitung und leitete zuletzt das Ressort „Aus aller Welt“. Foto: StZ
Es war eng bei uns in Gablenberg im Stuttgarter Osten. Mit Eltern und Großeltern wohnte ich in drei Zimmern ohne Bad, aber mit Blick auf den Rotenberg. An Weihnachten wurde der Tisch verrückt, damit im Erker vor den drei Fenstern die Puppenstuben Platz hatten. Zu meinem Glück kam der Vater heil aus dem Krieg zurück und konnte als gelernter Werkzeugmacher tolles Spielzeug für mich bauen: ein Puppenbett, eine Radlrutsch, ein Kettenkarrussel und eben die schicken Puppenstuben mit Metallrahmen und Fenstern, liebevoll tapeziert und eingerichtet. Heiligabend war immer spannend. Den Christbaum mit Lametta und bunten Glaskugeln durfte ich erst sehen, wenn am frühen Abend die roten Wachskerzen brannten und die Bescherung begann. Meinem Fotoalbum ist zu entnehmen, dass die Geschenke locker Platz hatten unterm Baum und dass ich damals Schuhe bekam! Aber für die Puppenstuben war immer etwas Neues dabei.

Es wurde gesungen, und ich sagte „Von „Drauß‘ vom Walde komm ich her“ auf. Noch heute kann ich das Gedicht auswendig. Von Omas herrlichen Gutsle mochte ich am liebsten Zimtsterne und Kokosbredle, wunderbar weich und feucht beim Reinbeißen, Ausstecherle, Butter-S und Haselnussbredle kamen erst an zweiter Stelle. Ja, und zwei Stockwerke tiefer hatte mein Ersatzbruder, ein Großcousin, eine sagenhafte Eisenbahnlandschaft mit Märklins H0-Zügen. Meist musste ich Weichen stellen oder Bahnhöfe verrücken, aber manchmal durfte ich die Loks auch fahren lassen. Das war so aufregend wie die Suche nach dem Christkind im Schneegestöber. Und jedes Jahr habe ich es gesehen, denn es schneite immer an Weihnachten in Gablenberg.

Kleiner Baum, großer Baum, von Julia Schröder

Deutsche Kinder des Jahrgangs 1963 sind, wie es heißt, im Wohlstand aufgewachsen, in einer Gesellschaft, die vor lauter Wirtschaftswunderverwirklichung keinen Gedanken mehr an den Weltkrieg verschwenden musste, nur nach vorn schaute und hemmungslos Ressourcen verbrauchte. Es kommt ja immer auf den Vergleich an. Verglichen mit den „hungernden Kindern in Indien“, die herbeizitiert wurden, wenn wir unsere randvollen Breitellerchen nicht leer essen wollten, waren wir gutgenährte kleine Könige und Königinnen. Verglichen mit dem, was heute unterm Christbaum liegt, hatten unsere Kindheitsweihnachten etwas geradezu zenhaft aufs Wesentliche Reduziertes.

Julia Schröder ist in Solingen aufgewachsen. Heute leitet sie das Gesellschaftsressort der Stuttgarter Zeitung. Foto: StZ
Zum Beispiel musste der Baum bei meinen Eltern in einer kleinen Dachwohnung mit lauter schrägen Wänden einen Platz finden, genauer: neben dem Esstisch in der eh winzigen Veranda. Entsprechend zierlich fiel er aus. Auf Fotos aus dieser Zeit ist er vermutlich deshalb auch nie drauf. Uns Kinder störte das nicht. Auch später, als wir längst wussten, dass nicht himmlische Mächte, sondern Papa und Mama die Geschenke besorgen (und mein praktisch veranlagter Bruder deshalb die Bestellnummern aus dem Quelle-Katalog gleich auf dem Wunschzettel vermerkte), wäre uns nie eingefallen, vor der Bescherung einen Blick ins Weihnachtszimmer zu riskieren. Auch wenn die Spannung kaum auszuhalten war, saßen wir brav vor der Tür, bis „das Christkind“ (mein Vater) drin ein Glöckchen läutete und der Ruf „Der Baum brennt!“ erschallte. Die Geschenke in den ersten Lebensjahren bestanden nicht selten aus Dingen, die aus Kinderzimmern der frühen vierziger Jahre stammten: Kochherd und Kinderkaufladen etwa, ehedem vom Großvater oder von einem französischen „Fremdarbeiter“ für meine Mutter gebastelt und jetzt generalüberholt. Dazu die ebenfalls oft handgemachten Spielzeuge, die die anderen Großeltern aus der DDR schickten. 1967 erfüllte sich mein erster echter Weihnachtswunsch: eine blondgelockte „Schlummerle“-Puppe!

Tüchtige Großeltern mit dicker kleiner Königin. Foto: privat
In dieser Zeit haben wir unter jeweils zwei Bäumen gesungen, weil wir am ersten Feiertag immer die Großeltern besuchten (Foto). Deren Baum war nicht nur groß, sondern Ergebnis spezieller Bemühungen meiner Oma. Sie wusste nicht nur, wie man aus einem krummen Hund mittels Zweigtransplantation die (fast) perfekte Tanne machte, sondern auch, dass Lametta, behutsam aufgebügelt, jahrzehntelang seinen Glitzerdienst verrichten kann. Manchmal fehlt mir all das. In letzter Zeit öfter.

Der Abend, an dem Oma Emmi starb, von Jan Georg Plavec

Es muss irgendwann gegen 18 Uhr gewesen sein, dass meine Oma Emmi gestorben ist. Am 24. Dezember 1996 verlor mein Vater seine Mutter und ich die Oma, die wir ein, höchstens zwei Mal im Jahr besuchten, weil die niederösterreichische Kreisstadt Wiener Neustadt acht Autostunden entfernt lag. Der Krebs kam plötzlich, im September gaben ihr die Ärzte noch drei Monate – „ungefähr bis Weihnachten“ – und sie behielten mit ihrer Prognose auf den Tag genau Recht. Das letzte Mal hatte ich meine Oma im November gesehen; meine Eltern wollten mir den Anblick der Sterbenden ersparen.

Jan Georg Plavec ist in Tettnang aufgewachsen und arbeitet als Redakteur im Onlineressort der Stuttgarter Zeitung. Foto: StZ
In Stunden wie diesen zeigen wir uns oft von der besten, der menschlichsten Seite. Es hilft, wenn man sich dabei an Rituale klammern kann. Mein Vater und meine Tante, beides gute Musiker, hatten Blockflöte und Gitarre ins Krankenhaus mitgenommen und spielten der sterbenden Mutter bis zu ihrem letzten Moment Weihnachtslieder vor. Währenddessen wartete der Rest der Familie im engen, überheizten großelterlichen Wohnzimmer. Der Weihnachtsbaum stand im abgedunkelten Schlafzimmer, die Kerzen waren aus und in uns herrschte eine große Leere.

Als mein Vater und meine Tante zurück in die Wohnung kamen und vom eingetretenen Tod der Großmutter berichteten, waren sie sehr gefasst. Wieder mag das immer und immer wiederholte Familienritual zu Heiligabend geholfen haben, in diesem Moment stark zu bleiben – alle bestanden darauf, jetzt Heiligabend zu feiern. Vielleicht aus Trotz, vielleicht, weil man dem Zwölfjährigen das Fest nicht nehmen wollte, auf das er sich so lange gefreut hatte. Vielleicht, um den Verlust dieser herzensguten Frau ein „O du Fröhliche“ lang zu vergessen.

Wir gingen ins Schlafzimmer, zündeten die Kerzen am Baum an, Vater und Tante griffen zu den Instrumenten und ich setzte mich an den alten, leicht verstimmten Familienflügel. Wir sangen die Lieder, die wir an Heiligabend schon immer gesungen haben und seither immer noch singen, es gab Geschenke, Umarmungen und eine oder zwei Tränen flossen auch. Aber wir haben den Tod, so präsent er in diesen Stunden war, nicht siegen lassen. Spätabends sind wir, obgleich nicht sonderlich religiös, noch in die Mitternachtsmesse gegangen.

Keiner in unserer Familie wird diesen traurigsten aller Heiligabende vergessen. Seither gedenken wir vor jeder Bescherung meiner Oma Emmi. Und spätestens seit dem 24. Dezember 1996 feiern wir an Weihnachten mehr als alles andere: das Leben.

Glühwein und Fondue, von Cedric Rehman

Vielleicht fragen sich manche Christen, wie wohl die vielen Andersgläubigen in unserem Land Heilig Abend verbringen. Manche stellen sich vielleicht voller Mitgefühl traurige Kinder vor, die vom Weihnachtsbaum und Geschenken träumen. Oder Eltern, die den Frust ihrer Kinder ertragen müssen, weil diese sich am Heiligabend schon ausmalen, wie sie nach den Weihnachtsferien nicht mit dem neuen Computergame in der Schule prahlen können.

Cedric Rehmann, in Freiburg geboren, schreibt für das Lokalressort und ist als Reporter in Krisengebieten unterwegs. Foto: Achim Zweygarth
Auf die Frage, was Nicht-Christen an Heilig Abend machen, kann es natürlich keine allgemein gültige Antwort geben. Wie auch, die Nicht-Christen teilen als gemeinsames Merkmal schließlich nichts anderes als die Tatsache, dass sie eine andere Religion haben als die Christen. Mein muslimischer Vater, der in Ende der Sechzigerjahre meine deutsche katholische Mutter geheiratet hatte, hat es sich einfach gemacht mit Weihnachten. Er hat von Anfang an mitgefeiert. Das hat er sich angewöhnt, nachdem er 1961 aus Pakistan zum Studium nach Deutschland kam. Damals wurde er von deutschen Freunden eingeladen, die Festtage mit ihren Familien zu verbringen. Bei Glühwein, Gans und Plätzchen lernte mein Vater dann kennen, was die Deutschen unter Gemütlichkeit verstehen.

Es scheint ihm gefallen zu haben, vielleicht auch weil er ein Wintertyp ist. Mein Vater liebt Schnee und Kälte, obwohl er aus einem südasiatischen Land kommt. Im Dezember hat es in Karachi in der Regel immerhin hochsommerliche dreißig Grad. Gleichwohl, meine Eltern haben beide nicht sonderlich viel am Hut mit Religion. Nach dem traditionellen Fondue-Essen zog es meine Mutter zumindest noch nie in die Christmette.

Alles in allem hat die Familie Rehman also Weihnachten gefeiert, wie es heute eben viele tun. Mit traditionellem Tam-Tam, aber ganz ohne religiöses Brimborium. Mit dem Tam-Tam ist es schließlich ein bisschen wie mit Santa Clause in der Coca-Cola-Werbung vor Weihnachten oder wie mit George Michael’s Song „Last Christmas“. Es spricht Bedürfnisse an, die es überall auf dieser Welt gibt. Deshalb können auch alle Weihnachten mitfeiern, die etwas übrig haben für Glühwein, Gans und Plätzchen. Ob sie ans Christkind glauben oder nicht.

Die größte Sünde des Lebens, von Adrienne Braun

Irgendwann hat die Neugierde dann doch gesiegt. Bei uns gehörte es wie in vielen Haushalten zur Tradition, dass die Wohnzimmertür bereits am 23. Dezember geschlossen wurde, damit das Christkind all das abliefern kann, was auf seitenlangen Wunschzetteln notiert war: Gesellschaftsspiele und Kinderbücher, das Puppenbügeleisen mit Stromanschluss und das Spielzeugparkhaus, in dem die Autos mit einer Kurbel auf oberste Deck befördert werden. Lego-Steine mit integrierter Beleuchtung. Ein Fellmantel, wie ihn die anderen Kinder längst hatten. Außerdem diese und jene Märchenplatten, weitere Bände von „Die drei Fragezeichen“. Und ein neues Fahrrad.

Adrienne Braun, in Wiesbaden aufgewachsen, ist Kolumnistin und arbeitet im Kultur- und Gesellschaftsressort. Foto: Achim Zweygarth
Das Fahrrad! Es hat mir keine Ruhe gelassen. Wenn man in einer Stadt mit Hügeln und steilen Hängen aufwächst, sollte ein neues Fahrrad eigentlich nicht der dringlichste Wunsch eines Kindes sein. Ich aber musste wissen: Kriege ich es oder nicht? Und ich wollte es SOFORT wissen.

So kam es zu einer der größten Sünden meiner Kindheit, zu einem Vergehen, das schwer auf meiner Seele lastete. Während die Familie am Vormittag noch einkaufen ging, ließ micht die Neugiert schier platzen – und ich spickelte ins Weihnachtszimmer. Da stand das neue Rad in voller Pracht. Ich aber konnte mich gar nicht mehr freuen, weil mich die Scham überschwemmte.

Dann kam schon bald die Pubertät und mit ihr das große Kichern. Ständig brach es aus mir heraus, unvermittelt und unpassend. Es gab kein Halten mehr. Ich kicherte mich durch diese pubertären Tage in einer solchen Heftigkeit, die sogar mir selbst auf die Nerven ging. Ob es ums Abtrocknen ging oder ein Lied im Radio, ob der Vater Geschichten aus dem Büro erzählte oder ich im Kakao rührte – ich kicherte mich kringelig.

In dieser schweren, hormongesteuerten Zeit entpuppte sich meine große Lebenssünde plötzlich als hilfreich. Immer, wenn das Kichern allzu unpassend ausbrechen wollte, rief ich mich zur Raison, und mahnte meine innere Stimme: „Du hast ins Weihnachtszimmer geschaut!“ Und schon erstarrte die Mimik, verebbte das Lachen, gefror das Blut in den Adern der reuigen Sünderin. Es hatte sich ausgekichert. Zumindest für den Moment.

Heute staune ich, wenn in Familien die Kinder den Weihnachtsbaum schmücken, wenn alle gemeinsam die Kerzen aufstellen und die Geschenke im Zimmer verteilen – und die Kinder sich so frei von Verführung und ganz ohne schlechtes Gewissen hemmungslos dem Erwachsenendasein entgegenkichern können.